Internationale Jugendpolitik

"Das Regime wird fallen"

Seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen im vergangenen Sommer protestieren die Menschen in Belarus gegen Diktator Lukaschenko. An den friedlichen Demonstrationen in Belarus nehmen besonders viele junge Menschen teil. Lavon Marozau ist Menschenrechtsanwalt und Internationaler Sekretär von RADA, dem Nationalen Jugendrat von Belarus. Er berichtet gegenüber den Vereinten Nationen, der EU und dem Europarat über die Jugendrechte im Land. Im Interview mit ijab.de beschreibt Lavon Marozau die Zwischenbilanz der Proteste, Repressionen des Geheimdienstes gegen Mitglieder des Jugendrats und warum er Belarus nicht verlassen wird.

ijab.de: Lavon, Belarus ist aus den internationalen Schlagzeilen weitgehend verschwunden. Kannst du uns eine Übersicht über die Situation im Lande geben?

Lavon Marozau: Etwa 50.000 Menschen sind verhaftet worden, es gibt tausende Fälle von Folter und Misshandlung, mindestens 5 Menschen wurden getötet. Seit dem Winter hat sich die staatliche Strategie geändert: Zuvor wurden die Verhafteten meistens zu kurzen Strafen von höchstens zwei Wochen verurteilt, jetzt wird das Strafrecht angewendet und das lässt erheblich höhere Haftstrafen zu. Gerade heute ist eines unserer RADA-Vorstandsmittglieder verhaftet worden, die Wohnungen von zwei weiteren wurden durchsucht. Man gibt uns keine Auskunft über die Gründe. Faire Gerichtsverhandlungen gibt es in Belarus nicht.

Aber auch die Menschen haben ihre Taktik geändert. Sie protestieren jetzt in kleineren Gruppen am frühen Morgen und späten Abend in den Stadtteilen. Das macht die Polizei nervös, denn sie kann nicht überall gleichzeitig sein, und wir zeigen ihr unsere Gesichter nicht. Was sich nicht geändert hat, ist der friedliche Charakter unseres Protests.

Inzwischen haben einige zehntausend das Land verlassen – hauptsächlich nach Polen, Litauen und in die Ukraine. Auch ein Teil meines Team von RADA ist inzwischen in Vilnius, ein weiteres Vorstandsmitglied ist in Kyjiw. Es ist hier einfach zu gefährlich geworden. Die Wohnung unserer Generalsekretärin ist auch schon vom KGB durchsucht worden, ihre Mutter wurde zweimal verhaftet. Das ist ein neues Mittel der Repression – Repression gegen unsere Familien.

Gleichzeitig stürzt die Wirtschaftsleistung des Landes ab. Seit Beginn der Proteste ist sie um 20% zurückgegangen.

Wie kann man helfen? Es hat mehrere Spendenkampagnen zur Unterstützung der Inhaftierten und auch der Streikenden gegeben.

Marozau: Ja, es ist tatsächlich viel Geld im Ausland gesammelt worden, aber die Konten im Inland sind blockiert. Die Freiwilligen, die zu den Spendenaktionen aufgerufen haben, riskieren Verhaftung und eine Anklage als Sponsoren des Protests. Ihnen drohen zwei bis vier Jahre Gefängnis.

Wir lassen uns davon nicht einschüchtern. Ich bin überzeugt, dass wir gewinnen werden, unsere friedlichen Proteste werden erfolgreich sein. Alle meine Freunde sehen das so. Wir erleben eine große Welle von Solidarität. Zuletzt wurde die Eishockey-Weltmeisterschaft abgesagt – nicht zuletzt, weil die Sponsoren abgesprungen waren. Sie konnten in der Weltmeisterschaft keinen Image-Gewinn für sich mehr erkennen. Möglicherweise sehen sie sogar Parallelen zur Olympiade 1936 in Berlin.

Mein Job ist es unter anderem über Jugendrechte gegenüber der UN und der EU zu berichten. Ich erkläre, was hier los ist, und man hört mir zu. Auch gegenüber dem Europarat berichte ich, obwohl Belarus dort nicht Mitglied ist, weil wir hier immer noch die Todesstrafe haben.

In diesen Tagen ist die Allbelarussische Volksversammlung mit hunderten von Delegierten zusammengekommen. Sie ist in der Verfassung nicht vorgesehen, existiert nur durch ein Dekret des Präsidenten und kann allenfalls Empfehlungen aussprechen. Dort soll auch über eine Beschränkung der Macht des Präsidenten und mehr Befugnisse für das Parlament gesprochen werden – also über eine Verfassungsänderung. Hast du Hoffnung, dass das etwas bringt?

Marozau: Natürlich nicht. Das Gremium ist völlig illegal, ist nicht durch die Verfassung gestützt und die Opposition ist dort nicht vertreten. Fällt doch mal ein kritisches Wort, wird die Live-Übertragung im Fernsehen sofort unterbrochen. Das ist kein Dialog, der dort angeboten wird. Tausende sind im Gefängnis oder im Exil. Mit wem will die Regierung also sprechen? Wir erleben eine Situation wie in George Orwells 1984. Das ist die Situation in meinem Land, das ist unsere Wirklichkeit.

Diejenigen, die heute die Regierung stellen, müssen sich fragen, wie sie weitermachen wollen. Werden sie mit Lukaschenko untergehen, werden sie weiter zu ihm halten? Nach allen Verbrechen, die sie begangen haben, muss ihnen eigentlich klar sein, dass sie die nächsten sind, die vor Gericht gestellt werden, wenn das Regime stürzt.

Was ist deine Prognose, wann das geschehen wird?

Marozau: Ich erwarte, dass es geschehen wird, aber ich kann nicht sagen, ob es in einem Monat oder einem Jahr der Fall sein wird. Unsere friedlichen Proteste sind anders, als die in der Ukraine oder in Armenien. Sie sind absolut gewaltfrei. Jeden Tag schließen sich uns weitere Menschen aus der Wirtschaft oder dem öffentlichen Leben an. Diese Menschen brauchen wir für einen demokratischen Wandel und für eine Verfassung, die Rechtsstaatlichkeit gewährleistet, für ein Land, in dem die Polizei die Bürgerinnen und Bürger schützt und nicht eine illegitime Regierung vor ihnen schützt.

Ich habe mich manchmal gefragt, ob ich nicht auch gehen soll. Ich habe kein Problem, im Ausland einen Job zu finden. Ich habe als Rechtsanwalt in der Ukraine, in Polen und in Vietnam gearbeitet. Als Kind habe ich eine Weile in Deutschland gelebt und könnte wahrscheinlich auch dort einen Job finden. Nur hier in Belarus kann ich noch nicht einmal an der Grundschule arbeiten seitdem ich vor ein paar Jahren Besuch vom KGB erhielt. Alle freien Belarusinnen und Belarusen stehen mit einem Bein im Gefängnis.

Wenn Sie dieses Interview lesen, fragen Sie sich selbst: Haben Sie viel über Ruanda im Jahr 1990 gehört? Über Jugoslawien im Jahr 1991? Über Tschetschenien im Jahr 1994? All diese Schrecken fanden in relativ friedlichen Zeiten in Europa statt, und die Zeitungen schrieben auch nicht viel über das, was vor sich ging. Nach all dem hat die Weltgemeinschaft sozusagen die Konsequenzen gezogen und beschlossen, das nicht zu wiederholen und die Diktatur und das Töten von Zivilisten zu stoppen. Aber was nun? Wir Belarusinnen und Belarusen sitzen im Gefängnis wegen der Flagge auf unserem Balkon, wegen des Tragens eines T-Shirts mit Symbolen, wegen eines Kommentars auf Facebook. Unsere Telefone werden vom KGB abgehört, wir dürfen unser Land nicht verlassen und werden langsam zermürbt.

Die Menschen sind es leid von einer weiteren EU-Erklärung und einer weiteren Verurteilung der Situation in Belarus zu hören. Wir müssen geduldig sein und unser Bestes tun, aber wir brauchen Hilfe.

Ich werde nicht für die Regierung arbeiten, ich will keinen normalen Job und ich will nicht ins Ausland gehen, ich arbeite ausschließlich für NGOs. Das Regime wird fallen. Wir müssen geduldig sein und unser Bestes tun.

 

Dieses Interview erschien am 17.02.2020 zuerst auf ijab.de. Der Leiter unseres Referats für Internationale und Europäische Jugendpolitik, Jochen Rummenhöller, vertritt den Deutschen Bundesjugendring e. V. im Vorstand von IJAB – Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e. V.

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