Der Austausch mit Europa ist wichtig - Jugendarbeit in der Ukraine in Zeiten des Krieges

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beyond: Was macht der Krieg mit den jungen Menschen in der Ukraine?
Natalia Shevchuk: Ich möchte diese Frage auf eine sehr persönliche Weise beantworten. Vor zwei Jahren habe ich dir einen jungen Mann als Interviewpartner empfohlen, Ivan Paramonov. Jetzt ist er tot, gefallen an der Front in der Region Charkiw. Das ist es, was der Krieg mit jungen Menschen macht. Ivan hatte im Ausland, ich glaube in Kroatien, Konfliktmanagement studiert. Er war ein engagierter Führer der ukrainischen Zivilgesellschaft, Mitbegründer und Geschäftsführer der NGO Shtuka. Unter seiner Leitung entwickelte sich Shtuka zu einer dynamischen Plattform für die Stärkung der Jugend, den kulturellen Dialog und soziale Innovation – insbesondere in den östlichen Regionen der Ukraine. Die Organisation initiierte Projekte wie den Bau eines Skateparks in Popasna in Zusammenarbeit mit lokalen Jugendlichen und Militärveteranen und die Produktion von Medieninhalten, die sich mit sozialen Fragen befassen, darunter ein Animationsfilm über COVID-19 und einen künstlerischen Film über die Herausforderungen junger Bergleute im Donbas. Nach der vollständigen Invasion Russlands verlagerten Paramonov und sein Team ihren Schwerpunkt auf humanitäre Hilfe und leisteten wichtige Unterstützung für gefährdete Gemeinden im Gebiet Donezk. Im Februar 2024 meldete er sich mit mehreren Kollegen aus tiefem Pflichtbewusstsein freiwillig zu den ukrainischen Streitkräften. Ivan hatte großes Mitgefühl für die Menschen, die vom Krieg in der Ostukraine betroffen waren. Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag in den Regionen Donezk und Luhansk. Mit Fotos und Videos dokumentierte er die durch den Krieg verursachten Zerstörungen. Er wollte Vorurteile abbauen und Menschen zusammenbringen. Er hat sich immer gefragt: Wie kann ich den Menschen helfen? Jetzt wurde er von russischen Soldaten getötet.
Junge Menschen leisten Widerstand gegen die russische Besatzung
beyond: Wie viel ist über die Situation junger Menschen in den von Russland besetzten Gebieten bekannt?
Natalia Shevchuk: Wir hören von Überlebenden, die es irgendwie geschafft haben, in die Ukraine zurückzukehren, von Vertreibungen und Umerziehungslagern. Wir wissen von jungen Menschen, die sich in anonymen Leseclubs treffen, um ukrainische Literatur zu lesen und darüber zu diskutieren. Das ist natürlich streng verboten. Bemerkenswert ist der Fall von Ivan Saransha, einem 18-Jährigen, der fast zwei Drittel seines Lebens im russisch besetzten Luhansk verbracht hatte. An die Ukraine selbst hatte er nur vage Erinnerungen – schließlich war er gerade 7 Jahre alt, als Russland die Stadt 2014 besetzte. Seitdem lebte er in einer Umgebung, die von russischen Fahnen und russischer Propaganda durchtränkt war. Erst vor kurzem gelang es ihm, auf eigene Faust zu fliehen, angetrieben von dem tiefen Wunsch, in einem von der Ukraine kontrollierten Gebiet zu leben. Der ukrainische Teenager Wladyslaw Rudenko, der von den russischen Besatzern aus Cherson verschleppt wurde, erzählte von seinen Widerstandserfahrungen während seiner Zeit in einem so genannten Umerziehungslager. Eines Abends kletterte er auf einen Fahnenmast, entfernte die russische Flagge und ersetzte sie durch seine Unterwäsche – ein mutiger Akt des Widerstands.
In den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine verfolgt Russland eine systematische Strategie zur Umprogrammierung der ukrainischen Jugend. Über Agenturen wie Rosmolodezh verbreitet es Propaganda, kontrolliert das Bildungswesen und integriert die Kinder gewaltsam in das russische ideologische und administrative System. Tausende von ukrainischen Kindern wurden unter dem Deckmantel der „Erholung“ illegal deportiert und unter Verletzung des Völkerrechts von ihren Familien getrennt. Sie werden in Lager in Russland und Belarus gebracht, wo sie einer militarisierten Erziehung und einer kremlfreundlichen Indoktrination unterzogen werden. In Orten wie Berdjansk und Melitopol in der Region Saporischschja wurden Militärklassen eingerichtet, die von der russischen Nationalgarde überwacht werden. Jugendliche werden in staatliche „Freiwilligenprogramme“ gedrängt und für den Dienst in den Besatzungsbehörden ausgebildet. Junge Menschen aus den besetzten Gebieten werden auch dazu angehalten, an sogenannten internationalen Veranstaltungen wie den „Weltjugendfestspielen in Sotschi“ teilzunehmen, die zum letzten Mal Anfang März 2024 stattfanden. Diese Aktionen sind keine Einzelfälle – sie sind Teil der offiziellen russischen Jugendpolitikstrategie bis 2030, die Putin zur nationalen Sicherheitsfrage erklärt hat. Das Ziel ist klar: die ukrainische Identität auszulöschen und eine neue, Kreml-treue Generation zu schaffen.
Gleichzeitig wissen wir im Grunde wenig über die Situation junger Menschen in den besetzten Gebieten, denn soweit ich weiß, gibt es fast keine Organisationen, die systematisch mit ihnen arbeiten.
Arbeit mit Vertriebenen aus den besetzten Gebieten
Das Zentrum für politische Bildung Almenda hat mit Binnenvertriebenen von der Krim und später aus anderen Teilen der besetzten Gebiete gearbeitet, die noch Kontakt zu ihren Angehörigen haben. Es ging um den Zugang zu Information, alle Formalitäten, die Integration in Schulen und Universitäten. Nach der Besetzung der Krim im Jahr 2014 spielte Almenda eine Schlüsselrolle bei der Forderung nach vereinfachten Verfahren, die es mehr als 20.000 Studenten ermöglichten, aus den besetzten Gebieten an ukrainische Universitäten zu wechseln. Die Organisation leistete einen Beitrag zur nationalen Bildungspolitik, u. a. durch vereinfachte Hochschulzulassungen für Bewohner der besetzten Gebiete und die Entwicklung eines Webportals zur Unterstützung von jungen Menschen. Almenda setzt sich auch auf internationaler Ebene für das Ende der Besatzung der Krim und den Schutz der Menschenrechte ein. Seit der russischen Invasion im Februar 2022 dokumentiert Almenda schwerwiegende Menschenrechtsverstöße gegen Kinder in bewaffneten Konflikten und hat sich der Koalition "Ukraine. 5 AM", die sich für Gerechtigkeit für die Opfer von Kriegsverbrechen einsetzt. Heute konzentriert sich die Organisation auf drei strategische Bereiche: Sicherstellung des Zugangs zu Bildung für junge Menschen aus besetzten und ehemals besetzten Gebieten, Schaffung von Bedingungen für eine sichere Wiedereingliederung und nachhaltige Entwicklung sowie Dokumentation von Verletzungen der Kinderrechte, um die Wahrheit öffentlich zu machen.
Für Kinder und Jugendliche in den besetzten Gebieten ist es schon schwierig genug, mit der Ukraine in Kontakt zu bleiben, da sie aus Sicherheitsgründen ihre ukrainische Identität verbergen müssen und eine der einzigen Möglichkeiten, mit der Ukraine in Kontakt zu bleiben, der Online-Unterricht in ukrainischen Schulen ist. Almenda hat ebenfalls ein großartiges Projekt durchgeführt, bei dem Kinder und Jugendliche durch Medien- und Kulturprojekte erreicht wurden, z. B. durch die Ausstellung Through the Veil of Silence - Children on Life Under Occupation, in der Jugendliche und Kinder beschreiben, wie es ihnen geht und wie sie sich fühlen, während sie unter der Besatzung leben.
Außerdem gibt es die staatliche Initiative „Bring Kids Back UA“ – eine nationale Initiative, die vom ukrainischen Präsidenten im Jahr 2023 mit dem Ziel ins Leben gerufen wurde, die Rückkehr aller ukrainischen Kinder zu gewährleisten, die während der umfassenden Invasion illegal von Russland deportiert wurden. Das Programm bringt staatliche Institutionen, internationale Partner, Menschenrechtsorganisationen und die Zivilgesellschaft zusammen, um diese Kinder ausfindig zu machen, zu identifizieren und sicher zurückzubringen. Außerdem bietet es Unterstützung bei der Wiedereingliederung durch psychologische Betreuung, Bildung und soziale Dienste. Die Initiative schärft das weltweite Bewusstsein, dokumentiert Kriegsverbrechen und setzt sich für Gerechtigkeit ein, während gleichzeitig neue internationale Mechanismen zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten gefördert werden.
Noch schwieriger ist es, über die Arbeit mit jungen Menschen aus Gebieten zu sprechen, die bereits von der Besatzung befreit wurden. Dabei sind es gerade Jugend- und Freiwilligenorganisationen, die das Potenzial haben, zur Wiederherstellung des Gemeinschaftslebens beizutragen und junge Menschen auf sinnvolle Weise wieder einzubinden.
Was brauchen Jugendorganisationen?
beyond: Es gibt kritische Stimmen, die sagen, dass Jugendbeteiligung unter den Bedingungen des Kriegsrechts nicht wirklich möglich ist. Was denkst du darüber?
Natalia Shevchuk: Ich stimme dieser Aussage teilweise zu. Aufgrund des Kriegsrechts gibt es keine Möglichkeit, Wahlen abzuhalten, daher ist politische Partizipation überhaupt nicht möglich. Andererseits steht Freiwilligenarbeit ganz oben auf der Agenda der Regierung. Diese einfache Form der Beteiligung funktioniert, ermöglicht es jungen Menschen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und zu erkennen, dass sie etwas bewirken können. Andere Dinge sind schwieriger, zum Beispiel die Konferenzen und Programme für den Wiederaufbau der Ukraine. Junge Menschen wurden nicht gehört, obwohl wir Jugend-NGOs wie BUR – Building Ukraine Together und Brave to rebuild haben, die den Wiederaufbau bereits praktizieren und von Zeit zu Zeit vom Staat zu einigen der Konferenzen eingeladen werden. Das muss man kritisch sehen, aber es hat nichts mit Kriegsrecht zu tun. Denn komplexere Formen der Partizipation auf partnerschaftlicher Ebene erfordern den politischen Willen, Räume für eine sinnvolle Konsultation mit jungen Menschen und einen Dialog zu schaffen, in denen ihre Stimmen nicht nur gehört, sondern auch in Entscheidungsprozessen praktisch eingebunden werden.
beyond: Was brauchen Jugendorganisationen, um wirksam handeln zu können?
Natalia Shevchuk: Sie brauchen institutionelle Unterstützung, Ressourcen und professionelle, bezahlte Mitarbeiter, um eine nachhaltige und effektive Jugendbeteiligung zu gewährleisten. Schließlich muss man von irgendetwas leben, und wer glaubt, dass alles auf freiwilliger Basis gemacht werden kann, öffnet eine neue Tür für Korruption. Wir brauchen auch mehr Dialog mit Partnern in Europa, damit wir Erfahrungen austauschen und voneinander lernen können. Interessant finde ich zum Beispiel Qualitätssiegel, wie sie in anderen Ländern entwickelt werden. Es wäre wichtig, unsere Arbeit zu professionalisieren. Die Universität in Lutsk hat jetzt ein erstes Ausbildungsprogramm dafür aufgelegt – einen Masterstudiengang für den Schwerpunkt „Jugendarbeiter“. Wir haben eine kleine Vereinigung von Jugendarbeitern in der Ukraine – etwa 50 Personen. Für sie und andere NGOs wären Verbindungen nach Europa wichtig.
Nataliia Shevchuk war von Dezember 2021 bis April 2025 Vorsitzende des Nationalen Jugendrats der Ukraine (National Youth Council of Ukraine).
Dieses Interview ist eine Vorschau auf die kommende Ausgabe des Fachmagazins beyond, das Anfang Juli 2025 zum Thema “Shrinking spaces für Jugendstrukturen” erscheinen wird.
Dieses Interview erschien am 23.05.2025 zuerst auf ijab.de.