Jugendpolitik

Jugendpolitische Rede der Vorsitzenden zur Vollversammlung

Unsere Vorsitzenden Lisi Maier und Tobias Köck eröffnen die 92. Vollversammlung in Berlin mit ihrer jugendpolitischen Rede. Wie veröffentlichen den Wortlaut.

Liebe Delegierte, liebe Freund*innen,

in diesem Jahr sind mehrmals zehntausende und hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen. Sie haben mit den Füßen auf die Straße getragen, was Ihnen wichtig ist. Diese Streiks, Demos, Proteste und Aktionen waren allen voran von jungen Menschen initiiert, mitorganisiert und getragen.

Am 6. April demonstrierten deutschlandweit an über 100 Orten zahlreiche Menschen bei #saveyourinternet für ein freies Internet.

Am 19. Mai machten sich 150.000 Menschen in sieben deutschen Städten für ein Europa gegen Nationalismus und für alle stark.

Am 6. Juli solidarisierten sich in hundert Städten über 30.000 Menschen mit der Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete, sie unterstützten die Aktion Seebrücke für das Retten von Menschenleben.

Am 20. September trugen Hundertausende in großen und kleinen Städten und Dörfern den globalen Klimastreik auf die Straße.

Am 13. Oktober folgten tausende Menschen dem Aufruf der Initiative Unteilbar unter dem Motto „Kein Fußbreit! Antisemitismus und Rassismus töten!“

Wenn dieses Jahr nochmal eines deutlich gezeigt hat, dann: Junge Menschen wollen am politischen Diskurs und an Entscheidungen partizipieren!

Die erst vor zwei Wochen veröffentlichte Shell-Jugendstudie unterstreicht das auch wissenschaftlich: Quer durch alle Gruppierungen gibt es eine zunehmende Sorge um die ökologische Zukunft, einen Trend zu gegenseitigem Respekt, einen starken Sinn für Gerechtigkeit und einen wachsenden Drang, sich für all diese Belange aktiv einzubringen. Trotz aller Schlagzeilen über die höher gewordene Anfälligkeit junger Menschen für populistische Aussagen: Junge Menschen treten in großer Mehrheit für eine vielfältige, offene und gerechte Gesellschaft ein.

In dieser Gesellschaft, in diesem vergangenen Jahr ist noch viel mehr passiert als diese großen Demos – bei euch und uns in den Verbänden, gesellschaftlich und politisch.

Was mit Greta Thunbergs „Skolstreik for Klimatet“ in Stockholm begann ist mit Fridays for Future zu einer globalen Bewegung geworden. Viele Jugendverbände streiken mit und unterstützen diese Bewegung: Mit Wissen, Räumen, Menschen und Positionen. Wir haben im DBJR auch das Klima zu einem Schwerpunkt gemacht und einen weitblickenden Klimabeschluss gefasst. Wir haben uns mit nachhaltigem Reisen beschäftigt und die klimapolitischen Prozesse des Bundestags und der Bundesregierung begleitet. Wir haben auch auf internationaler Ebene für die Agenda 2030 und das Pariser Klimaschutzabkommen gestritten.

Für uns waren die Europawahlen sehr wichtig. Vor einem Jahr haben wir eine starke Position zu Europa beschlossen. Wir organisierten eine U18-Wahl für Kinder und Jugendliche – mit unglaublich vielen Wahllokalen. In Vielfalt vereint ist es uns gelungen, viele Ü18 zur Wahl zu motivieren. Gerade Dank eures unglaublichen Engagements in den Jugendverbänden und Jugendringen für Europa haben wir einen Beitrag an der gestiegenen Wahlbeteiligung. Wir haben für Europa demonstriert und müssen gerade erleben, was die Nationalstaaten mit Europa anstellen: Die Besetzung der Kommission, die Hängepartie beim Brexit …

Die aktuellen Krisen unserer Zeit sind Krisen der Nationalstaaten. Mit den Nationalisten wird es deshalb auch keine Lösungen geben. Deshalb lasst uns weiter für unser Europa streiten und das Europäische Parlament stärken!

Als Jugendverbände machen wir uns im vergangenen Jahr, der Europawahl, aber auch im kommenden Jahr der EU-Ratspräsidentschaft stark für ein demokratisches, gerechtes, solidarisches und ökologisches Europa.

Weil wir in einem Europa leben wollen

  • das Rechtsstaatlichkeit und Demokratie schützt
  • das sich solidarisch zeigt mit denen, die zu uns kommen und Menschen nicht im Mittelmeer ertrinken lässt
  • das endlich Schluss macht mit seiner eigenen ausbeutenden Handels- und Wirtschaftspolitik und Waffenexportpolitik
  • das sich die Klimaneutralität möglichst schnell auf die Fahne schreibt und in die Umsetzung kommt.
  • das junge Menschen und ihre Themen ernst nimmt und ihnen bei relevanten politischen Entscheidungen ihr grundrechtlich verfasstes Beteiligungsrecht nicht entsagt.

Mit unserer Kampagne zur Wahlalterabsenkung haben wir im vergangenen Jahr ein Thema aufgegriffen, dass viele unserer Verbände, und nicht nur diese und keineswegs nur junge Menschen gerade umtreibt – da bleiben wir dran.

Wir sind überzeugt: Wir Jugendverbände, wir als zivilgesellschaftliche Akteure können dem ganzen braunen Brei unserer Zeit etwas entgegensetzen. Unsere Idee von einem Europa der Jugend, einem Europa, das sich nicht von Nationalismen treiben lässt, sondern von einem gemeinsamen Verantwortungsgefühl geprägt ist.

Denn es ist auch traurige Realität in Deutschland: Rechter Terror, Hasskriminalität, Rechtsextremismus und Antisemitismus. Die Rechten machen vor Mord keinen Halt. Manchmal ist es beängstigend, wie aktuell die Beschlüsse und Positionen des DBJR auch nach Jahren und Jahrzehnten noch sind. Diese Worte stammen aus einem Beschluss des Hauptausschusses vom 15./16. Oktober 1991. Damals haben wir festgestellt, dass:

„die verantwortungslosen Reden vieler Politiker zur Einschränkung des im Grundgesetz garantierten Asylrechtes [...] zur Eskalation der Gewalt beigetragen [haben]. Die ausländischen Mitbürger*innen sind öffentlich als unerwünschte Gruppe dargestellt worden. Diese Diskussion hat mit dazu beigetragen, die Hemmschwelle für Aggressivität und Gewalt zu senken. Wir fordern eine Neuorientierung der Politik, die der Ausbreitung des Hasses gegen Ausländer*innen entgegenarbeitet, die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt und die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit zum Ziele hat.“ Zitat Ende.

Auch heute – 28 Jahre nach diesem Beschluss – stehen wir hier und fragen uns: Warum hört man nicht auf uns, wenn wir warnen? Was erwartet man denn, wenn Politiker*innen zündeln und mit Angst vor dem Fremden Handel treiben? Wie oft hat man uns Jugendverbänden und -ringen in den letzten Jahren vorgeworfen, dass wir so einseitig den Rechtsextremismus ins Visier nehmen. Und jetzt? Jetzt sitzt eine völkisch-nationalistische, jugendfeindliche und antidemokratische Partei im Bundestag und in allen LandesParlamenten. Sie und ihr Umfeld schüren Angst und Hass.

Die Mandatsträger*innen der AFD vertreten offen antisemitische, rassistische und homophobe Äußerungen. Ihre Anhänger*innen ziehen mordend durch Deutschland. Es gibt weiter en masse rechtsradikale Übergriffe. Sie passieren in hohem Ausmaß, sind dramatisch wie in Halle. Aber nur selten schaffen sie es in die Medien. Nachdem aber nun selbst dem Innenminister Angst und Bang wurde, ist es Zeit, auf die Angst auch politische Konsequenzen folgen zu lassen.

Der Staat muss mit seinen Möglichkeiten entschieden gegen Rechts vorgehen, ohne Vielfalt einzuschränken und Zivilgesellschaft zu bevormunden.

Denn der beste Verfassungsschutz ist nicht ein aufgeblähter Verfassungsschutz, der Recht brechen darf. Der beste Verfassungsschutz ist eine starke, demokratisch-organsierte Zivilgesellschaft!

Und diese Zivilgesellschaft braucht gute Rahmenbedingungen!

Sie braucht eine gute Förderung, sie braucht Freiräume, sie braucht gute Strukturen und wir brauchen endlich weniger Bürokratie!

Nicht hilfreich sind dabei Wasserköpfe wie die geplante Engagementstiftung – 100 Berater*innenstellen und der Aufbau einer Parallelstruktur.

Wir sagen es hier deutlich: Die Ehrenamtlichen - ob jung oder alt - und ihre eigenen, von ihnen organisierten und verantworteten zivilgesellschaftlichen Strukturen wissen selber am besten, was sie, die Ehrenamtlichen wirklich brauchen. Und das ist weniger statt mehr Bürokratie.

Und deshalb sind wir enttäuscht, dass sich heute Nachmittag die Ministerin für diese Engagementstiftung im Plenum einsetzen muss und bei unserer Vollversammlung nicht sprechen wird.

Wir sagen es ganz deutlich in Richtung Jugend-, Innen- und Landwirtschaftsministerium: Nehmt die 35 Millionen für die Stiftung und macht damit Dinge, die Ehrenamtlichen und Engagierten wirklich helfen:

  • Stärkt die bundeszentralen Strukturen der Jugendverbände!
  • Nehmt die Kürzung bei den Freiwilligendiensten zurück!
  • Baut die offene Kinder- und Jugendarbeit im kaputtgesparten Osten wieder auf!
  • Und leistet damit einen Beitrag für Euren Verfassungsschutz – für ein aktive Zivilgesellschaft!

Gleiches gilt für die zielgerichtete und nachhaltige Arbeit gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Auch diese gelingt nicht durch reine Projektitis. Seit 2014 versucht die Regierung mit „Demokratie leben“ das Problem zu bekämpfen. Das gelingt jedoch aus unterschiedlichen Gründen mit dem bestehenden Programm nicht wirklich gut. Es werden Parallelstrukturen in den Kommunen aufgebaut und gefördert. Ein (großer) Teil der Mittel versickert oder wird vor Ort zweckentfremdet um Dinge zu finanzieren, die eigentlich zur kommunalen Pflichtaufgabe gehören und entsprechend zu finanzieren wären. Wir erwarten mehr Unterstützung bestehender zivilgesellschaftlicher Akteure. Das nennen wir Subsidiarität!

Wir erleben, dass die Legitimation einzelner Jugendverbände und -ringe in Frage gestellt wird. Vor allem aber kämpfen unsere Strukturen damit, dass sie durch das – bewusst oder unbewusst – falsch angewandte Neutralitätsgebot unter Druck gesetzt werden.

Wir sagen es hier und heute noch einmal klar und deutlich: Neutralität gilt für den Staat – wir als Jugendverbände sind wertgebunden seit 70 und mehr Jahren und das nicht ohne Grund! Ein Auszug aus der aktuellen Weimarer Erklärung der Thüringer Bildungunsgstätten, die gerade jetzt im Wahlkampf massiv von der AfD angegriffen werden:

„Die Demokratie beruht auf der Achtung der Menschenrechte, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Diesen Grundlagen der Demokratie kann eine demokratische Bildungs- arbeit nicht „neutral“ gegenüberstehen. Vielmehr ist es die Aufgabe von Bildung in der Demokratie, für demokratische Grundwerte einzutreten und gegen antidemokratische, antipluralistische und menschenfeindliche Positionen Stellung zu beziehen. Ein Neutralitätsgebot, das einem Werterelativismus Vorschub leistet, ist mit einer demokratischen Bildungsarbeit nicht vereinbar.“

Die Wertgebundenheit schützt uns vor Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Sie stärkt unsere Demokratie und die Menschenrechte! Und das ist wichtig und gut so! Angriffen gegen Einzelne von uns stellen wir uns als Jugendverbände – wie zuletzt in Bayern – vereint und solidarisch entgegen. Wir sind und bleiben in Vielfalt vereint. Das nennen wir Solidarität!

Und wir werden noch mehr Solidarität unter uns brauchen: Am Sonntag sind Wahlen in Thüringen.

Nach aktuellen Umfragen werden diejenigen, die Verachtung zum Prinzip ihrer Politik erhoben haben, die Verachtung der rechtsstaatlichen Regeln und der Grund- und der Menschenrechte zeigen, zu viele Stimmen bekommen. Wir sagen es nochmal deutlich an alle demokratischen Parteien: Mit den Feinden der Demokratie, des Rechtsstaats, der Menschenwürde, mit den Höckes, Kalbitz, Gaulands und Weidels legt man sich nicht ins Bett! Das erwarten und das fordern wir! Das nennen wir Rückgrat!

Was ein Erstarken rechtsnationaler Kräfte in einem Land bedeuten kann, davon wissen unserer Partnerstrukturen leider viel zu viel zu berichten.

Nationalisten und Rechtsradikale sitzen nicht nur in Deutschland im Parlament, in unseren europäischen Nachbarländern und weltweit, in Polen ebenso wie in Brasilien. Sie hetzen gegen Geflüchtete und Migrant*innen, sie stellen die Gleichheit der Geschlechter infrage. Sie verpesten das politische Klima und den gesellschaftlichen Diskurs. Und sie setzen unsere Partner immer weiter unter Druck.

Die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen wird erschwert, eingeschränkt oder verhindert. Es gibt Einschüchterungsversuche, öffentliche Diskreditierung, Verbote von Aktivitäten sowie Einschränkungen und das Verbot von Finanzierungsmöglichkeiten. Es gibt willkürliche Verhaftungen, Gewalt und administrative Schikanen. Das zwingt in unterschiedlicher Ausprägung auch einige unserer Partner in EU-Nachbarländern und über die Europäische Union hinaus ihre Arbeit einzuschränken, in den Untergrund zu verlagern oder an die herrschenden Regierungen anzupassen.

Wir freuen uns, dass viele dieser Partnerstrukturen aus Europa und Israel zu uns gekommen sind – ein Geschenk, das wir uns bei dieser Vollversammlung anlässlich unseres 70. Geburtstags einfach mal selbst gemacht haben. Jugendvertreter*innen aus 19 Ländern sind hier! Mit euch gemeinsam wollen wir morgen im Rahmen dieser Vollversammlung aktuelle Herausforderungen der internationalen Zusammenarbeit, aber auch der Situation für zivilgesellschaftliche Organisationen in Europa und weltweit beraten. Mit Euch zusammen haben wir in den vergangenen 70 Jahren Geschichten geschrieben von Völkerverständigung, Menschenrechten und Frieden. Wir wollen auch in den kommenden Jahrzehnten Geschichte schreiben: von demokratischem Austausch, der geprägt ist von gegenseitiger Toleranz, von Jugendlichkeit und von Solidarität.

Zivilgesellschaftliche Organisationen wie wir Jugendverbände in Deutschland, Europa und weltweit haben die Pflicht, an der Gestaltung der Demokratie mitzuwirken, weil die nur funktioniert, wenn die Menschen die in ihr Leben ihren Beitrag leisten. Demokratie zu leben ist zwar manchmal anstrengend und mühsam, aber es lohnt sich! Das wissen und leben wir seit 70 Jahren!

Als Jugendverbände und Jugendringe werden wir unseren Beitrag leisten. Denn wir sind Werkstätten der Demokratie und schaffen Freiräume für junge Menschen! Als Werkstätten der Demokratie machen wir uns für eine starke Zivilgesellschaft und gute Rahmenbedingungen für diese stark – finanziell und rechtlich!

Wir sind Werkstätten der Demokratie und praktizieren seit 70 Jahren „Demokratie lernen“ durch „Demokratie erleben“ – politische Bildung wird bei uns groß geschrieben!

Wir sind Werkstätten der Demokratie – denn was in den Jugendverbänden und Jugendringen, an politischen Aushandlungsprozessen gelernt wird, das kann in anderen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Diskursen umgesetzt werden.

Wir sind Werkstätten der Demokratie - weil junge Menschen in uns demokratische Aushandlungsprozesse erlernen: sie erdulden den Kompromiss, sie reflektieren ihre eigenen politischen Strategien, sie gehen auf die Suche nach gleichberechtigter Teilhabe, sie protestieren und demonstrieren – nicht erst seit 2019.

Als sich vor 70 Jahren Jugendverbände im Deutschen Bundesjugendring zusammenschlossen, waren es zwei Hand voll. Wir sind in den 70 Jahren um das fünffache gewachsen und vielfältig geworden. Wir vertreten die Interessen von Millionen Kindern und Jugendlichen, streiten für eine jugendgerechte Gesellschaft und für eine kohärente Jugendpolitik.

Wir lassen uns nicht davon abhalten immer weiter zu tun, was wir als Jugendverbände nun einmal tun: nämlich Raum zu schaffen von und für Jugendliche zum selber machen, und klar zu sagen, was wir wollen und was wir brauchen. Wir lassen uns nicht frustrieren davon, dass uns zwar Bürokratieabbau im Koalitionsvertrag versprochen, dann aber eine Wasserkopf-Engagementstiftung mit 100 Beratungsstellen vorgesetzt wird. Wir kämpfen dafür, dass substantielle und echte Verbesserungen der Rahmenbedingungen für ehrenamtliches Engagement passieren, finanziell, rechtlich und pragmatisch.

Wir machen weiter. Weil wenn unsere Geschichte und die aktuelle Situation auch zeigen, dass es unheimlich schwer ist, davon zu überzeugen, dass junge Menschen mit ihren Positionen ernst genommen und wirksam beteiligt werden müssen. Geschichte zeigt auch, dass wir Jugendverbände sehr wohl für junge Menschen sprechen, und dass junge Menschen selbst wissen, was ihnen wichtig für die Zukunft ist. Wir hoffen dass junge Menschen ihre Interessen auch im kommenden Jahr laut und vielfältig, dynamisch und demokratisch auf die Straßen tragen und sagen zu, dass wir immer weiter tun werden, was getan werden muss, und sagen werden, was gesagt werden muss – IM INTERESSE DER JUGEND!

Themen: Jugendpolitik