Mythos Neutralitätsgebot: Eine Handreichung für mehr Handlungssicherheit in der Praxis

Layout und Gestaltung: Rebekka Posselt

Von Sebastian Bock (Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten), Maximilian Lorenz, Lars Reisner und Christian Weis (alle Deutscher Bundesjugendring)

Die Begriffe „Neutralitätsgebot“ oder „Neutralitätspflicht“ geistern durch die Landschaft der Kinder- und Jugendarbeit, insbesondere der außerschulischen Jugendbildung. Sie werden gerade von rechten Akteuren politisch instrumentalisiert und von Verwaltungen unsachgemäß angewendet. Damit verunsichern und bedrohen sie Jugendverbände und -ringe und damit auch die Jugendgruppen und -initiativen vor Ort, die als selbstorganisierte Akteure mit politischen Interessen, mit Werten und Haltung handeln und wirken. Unsicherheit und Angst schränken diese Akteure ein, sie behindern Widerspruch, Kritik und damit letztlich das demokratische Miteinander. Richtig ist: Grundsätzlich gibt es kein parteipolitisches Neutralitätsgebot für Jugendverbände und -ringe und auch nicht für andere nicht-staatliche Organisationen. Was Organisationen beachten müssen, die als gemeinnützig anerkannt sind, wird in einem weiteren Artikel in diesem Heft ausgeführt unter dem Titel: „Lasst euch nicht verunsichern: Wie Jugendverbände und -ringe klar politische Haltung zeigen und gemeinnützig bleiben“

Diese Handreichung klärt den Sachverhalt zum Thema „Neutralität“ und soll Jugendgruppen, Jugendinitiativen, Jugendverbänden und -ringen1 bei ihren Aktivitäten Handlungssicherheit geben. Sie sind als Teil der Zivilgesellschaft keine Erfüllungsgehilfen des Staates und unterliegen daher auch nicht der staatlichen parteipolitischen Neutralitätspflicht. Eine Neutralitätspflicht, die Zivilgesellschaft oder zivilgesellschaftliche Gruppen adressiert, verbietet sich in einer Demokratie. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind ein wichtiger Teil der Willensbildung. Jede demokratische Willensbildung muss sich immer vom Volk zu den Staatsorganen hin vollziehen, nicht umgekehrt. Dies stellt u.a. das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil dar.2 Die Geltung des Neutralitätsgebotes für nicht-staatliche Akteure ist daher ein demokratiefeindlicher Mythos!

 

Eine klare Haltung gegenüber demokratie- und menschenfeindlichen Positionen ist auch rechtlich immer möglich und geboten. Gegen Personen, die Vertreter*innen einer rechtsextremen Partei sind oder in dieser Funktionsämter übernehmen, dürfen Jugendverbände eine klare Haltung und Abgrenzung gegenüber deren Positionen wahrnehmen. Andererseits lebt Jugendverbandsarbeit von Beziehungsarbeit. Daher kann eine Chance darin liegen, junge Menschen, bei denen rechtsextreme Ideologien aufgrund deren starker Verbreitung verfangen haben, nicht auszugrenzen, sondern in sinnvollen vorbereiteten Rahmen individuell die Debatte mit ihnen zu suchen. Gerade in der Jugendverbandsarbeit, der Kinder- und Jugendarbeit sowie der politischen Bildung sollte immer der einzelne junge Mensch selbst im Fokus stehen. Gleichzeitig ist es unabdingbar, rechtsextremes und völkisches Gedankengut als solches zu entlarven. Es darf niemals als gleichwertige demokratische Position akzeptiert und ihm eine Bühne gegeben werden.

Was gilt für wen? Zwei Gebote für Staatsorgane und öffentlich-rechtliche Institutionen

Träger der öffentlichen oder hoheitlichen Gewalt (= Hoheitsträger) sind auf verfassungsrechtlicher Grundlage zunächst der Staat (Bund und Länder) und seine Organe. Diese können ihre Aufgaben an Einrichtungen des öffentlichen Rechts, wie Körperschaften (z.B. Kommunen), Anstalten und Stiftungen übertragen. Alle Träger der hoheitlichen Gewalt und alle, die hoheitliche Aufgaben im Auftrag des Staates übernehmen, sind zur Neutralität3 in zwei Bereichen grundgesetzlich verpflichtet:

  1. Parteipolitisches Neutralitätsgebot: Staatliche Aktivitäten dürfen den Wettbewerb der Parteien nicht einseitig beeinflussen. Die Autorität des Amtes und die Mittel des Staates dürfen nicht so eingesetzt werden, dass die gleichberechtigte Mitwirkung von Parteien an der Willensbildung beeinflusst wird. Daher muss sich der Staat gegenüber allen Parteien „neutral“ verhalten, allen die gleichen Chancen einräumen und somit keine Partei bevorzugen.
  2. Religiös-weltanschauliches Neutralitätsgebot: Der Staat muss eine Heimat für alle Bürger*innen sein. Er darf sich nicht exklusiv mit einer einzigen Religion oder Weltanschauung identifizieren. Der Staat hat die individuelle Glaubensfreiheit der Bürger*innen zu garantieren und verhält sich dann neutral, wenn er ihnen die Ausübung ihrer Religion bzw. Weltanschauung ermöglicht und keine religiöse oder weltanschauliche Sicht indoktriniert

Keine staatlichen Neutralitätsgebote für Träger aus der Zivilgesellschaft

Jugendverbände und -ringe unterliegen grundsätzlich keinem Neutralitätsgebot. Auch sie sind Träger von Grundrechten wie der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) oder der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG). Diese Grundrechte geben ihnen das Recht, zu äußern, was sie möchten, solange sie sich an die allgemeinen Gesetze halten. Das staatliche Neutralitätsgebot gilt dagegen für öffentliche Institutionen wie z. B. der öffentlichen Jugendhilfe, die Teil der Länder oder der Kommunen ist. Als Teil des Staates ist sie unmittelbar dem staatlichen Neutralitätsgebot verpflichtet.4 Dies gilt nicht für Verbände oder Vereine bzw. ihre Jugendorganisationen, die öffentlichen Institutionen nahestehen, aber selbst nicht formal eine öffentliche Körperschaft sind (z.B. eingetragene Vereine).5 Sie bleiben Träger von Grundrechten. Eine inhaltliche Nähe eines Jugendverbandes zu seiner „Erwachsenenorganisation“ überträgt das für öffentliche Stellen geltende Neutralitätsgebot nicht auf den Jugendverband. Sie sind also keinem Neutralitätsgebot unterworfen. Im Übrigen sind auch öffentliche Institutionen keiner gänzlichen Neutralität verpflichtet. Sie sind selbst den Grundrechten und Menschenrechten verpflichtet und müssen beispielsweise Rassismus nicht „neutral“ hinnehmen. In der praktischen Arbeit freier Träger der Jugendhilfe kann es trotz dieser klaren Ausgangslage unter bestimmten Bedingungen zu Herausforderungen kommen. Vier besonders relevante Herausforderungen werden im Folgenden vorgestellt und eingeordnet.

1.  Praxis-Herausforderung: Förderbedingungen

Jugendverbände und -ringe sind in der Regel von einer öffentlichen Förderung abhängig. Die entsprechende Verpflichtung zur Förderung ist in den §§ 11 und v.a. 12 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) geregelt. Demokratiefeindliche Akteure erwecken den Eindruck6, dass damit automatisch das Neutralitätsgebot des Staates auf diese übertragen werde. Das ist eine gezielte Strategie zur Einschüchterung der demokratischen Zivilgesellschaft und schlicht falsch.

Der Staat darf seine Pflicht zur parteipolitischen Neutralität nicht durch die Fördermittelvergabe gezielt umgehen, indem er nur einseitig Projekte oder Träger fördert, die bestimmte Werte vertreten bzw. parteipolitisch einseitig agieren. Diese Gefahr besteht aber in der Kinder- und Jugendhilfe schon deshalb nicht, da in § 3 SGB VIII festgelegt ist: „Die Jugendhilfe ist gekennzeichnet durch die Vielfalt von Trägern unterschiedlicher Wertorientierungen und die Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen.“ Diese Vielfalt ist auch bei der Auswahl der zu fördernden Maßnahmen und Trägern zu beachten. Die Grenze der Vielfalt ist in § 75 (1) SGB VIII benannt. Alle Träger müssen „die Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit bieten.“

Eine pauschale Übertragung des staatlichen Neutralitätsgebotes von öffentlichen Fördermittelgebern auf nicht-staatliche Akteure ist nicht nachvollziehbar. Die pauschale Übertragung des Neutralitätsgebotes ist auch vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes der Meinungsfreiheit von Jugendverbänden und -ringen nicht hinzunehmen.7 Gerade für Akteure im Feld der politischen Jugendbildung ist es rechtlich möglich, auch Positionen einzelner Parteien sachlich begründet als rassistisch oder rechtsextrem zu benennen.8

Für die spezielle Förderung der Jugendverbände und -ringe ergibt sich aus der Regelung des § 12 SGB VIII, dass staatliche Akteure bei der Förderung von Jugendverbänden und -ringen deren grundrechtliche Freiheiten nicht durch die Regelungen in Förderbedingungen einschränken dürfen.9 Die relevante Formulierung ist, dass Jugendverbände „unter Wahrung ihres satzungsmäßigen Eigenlebens“ zu fördern sind. Darüber hinaus ist geregelt: „Durch Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse werden Anliegen und Interessen junger Menschen zum Ausdruck gebracht und vertreten.“ – Dies durch eine Verpflichtung zur sogenannten Neutralität einzuschränken, würde dem widersprechen.

Daraus ergibt sich, dass es keine gesetzlichen Verpflichtungen für Jugendverbände und -ringe zur parteipolitischen Neutralität gibt. Eine entsprechende Verpflichtung zur parteipolitischen Neutralität kann zwar in gewissem Umfang in Form von Förderauflagen (z.B. Nebenbestimmungen eines Förderbescheids)10 oder im Rahmen einer beiderseitigen Vereinbarung im Rahmen einer Förderung (z.B. Fördervertrag) beauflagt werden, aber nur insoweit, dass damit nicht die Vereinsautonomie und das satzungsgemäße Eigenleben der Organisation unangemessen beeinträchtigt wird. Ob dies der Fall ist, muss immer im Einzelfall geprüft werden.11 Sollte eine solche Regelung in einem Zuwendungsbescheid stehen, ist deren Zulässigkeit zu prüfen. Eine kritische Auseinandersetzung mit den politischen Fragen und Anliegen junger Menschen auf Basis einer sachlich fundierten Diskussion muss für Jugendverbände und -ringe immer möglich sein.

Frage aus der Praxis: Wie ist damit umzugehen, wenn derartige Nebenbestimmungen Teil des Förderbescheids sind? Eine entsprechende Regelung oder eine Formulierung, die diesen Eindruck erweckt, muss immer mit Blick auf den Gesamtbescheid geprüft werden. Wenn der Eindruck aufkommt, dass im Bescheid übermäßig eine parteipolitische Neutralität vorgegeben wird, sollte Widerspruch eingelegt werden. Wird kein Widerspruch erhoben, wird der Bescheid in der Regel nach einem Monat rechtskräftig und kann später nur noch schwer rechtlich angegriffen werden. Wichtig ist, dass der Widerspruch schriftlich erhoben werden muss (§ 70 Abs. 1 VwGO). Eine gesetzliche Pflicht zur Begründung des Widerspruchs besteht nicht. Es ist aber ratsam, darauf hinzuweisen, dass mit der Übertragung einer Neutralitätspflicht per Förderbescheid in das in § 12 Abs. 1 SGB VIII garantierte „satzungsmäßige Eigenleben“ sowie in das Grundrecht auf Meinungsäußerung aus Art. 5 GG unverhältnismäßig eingegriffen wird. Sollte der Bescheid nicht geändert werden, empfiehlt sich spätestens dann die Einschaltung einer anwaltlichen Unterstützung. Auch Dachverbände und Jugendringe können in solchen Verfahren unterstützend zur Seite stehen.

Wenn der Eindruck besteht, dass ein derartiger Förderbescheid nicht durch Unkenntnis der Behörde entstand, sondern eine gezielte, von rechten Akteuren politisch motivierte Maßnahme gegen den Jugendverband oder -ring ist, um diesen „mundtot“ zu machen, besteht die Möglichkeit beim Gemeinschaftsprojekt „Gegenrechtsschutz“ kostenfreie juristische Unterstützung zu erfragen. Mit diesem Projekt werden zivilgesellschaftliche Akteure unterstützt, die von rechtlichen Maßnahmen betroffen sind, die der Durchsetzung einer autoritären politischen Agenda dienen.

Komplizierter kann es werden, wenn es nicht um eine Förderung nach § 12 SGB VIII geht, sondern es sich um eine Projektförderung für eine bestimmte abzugrenzende Aktivität – z.B. nach § 11 SGB VIII – handelt. Hier kann es sein, dass eine politisch-thematische Einschränkung rechtmäßig ist. Ein Förderbescheid für ein Projekt eines Jugendverbandes oder -ringes, das sich beispielsweise mit jugendgerechter Mobilität in der Kommune befasst, kann die Auflage enthalten, dass mögliche Veranstaltungen im Rahmen dieser Projektförderung sich inhaltlich auch nur diesem Thema widmen dürfen. Diese Beschränkung auf bestimmte Themenfelder kann bei Projektförderung sachgemäß sein. Bei der grundständigen Förderung der Jugendverbände und -ringe hat dies aber nichts zu suchen.

2.  Praxis-Herausforderung: (Politische) Bildung

Ein Neutralitätsgebot gilt auch nicht für Aktivitäten in der Bildungsarbeit und auch nicht in der politischen Bildung. Das im Beutelsbacher Konsens festgehaltene Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot wollen kritische Auseinandersetzungen gerade nicht verhindern, sondern verpflichten dazu, kontroverse Themen auch kontrovers abzubilden und nicht nur eine bzw. die eigene Meinung durchzusetzen. Der Beutelsbacher Konsens enthält kein Neutralitätsgebot. Zudem ist es wichtig, den Beutelsbacher Konsens in den richtigen Kontext zu setzen. Dieser ist keine rechtsverbindliche Grundlage, sondern eine fachdidaktische Orientierung für die politische Bildung, die 1976 aus einer Fachtagung der Politikdidaktik hervorging.

Politische Bildung hat die Verantwortung zur kritischen Differenzierung und einen normativen Kern in der Vermittlung pluralistischer, demokratischer und menschenrechtsorientierter Haltungen und Werte. Jugendverbände und -ringe sowie weitere Träger haben zudem, z. B. in Satzungen fixierte oder implizite Haltungen und Werte, die für ihre tägliche Arbeit mit jungen Menschen leitend sind. Es ist gerade eine demokratische Errungenschaft, dass es verschiedene Jugendverbände mit unterschiedlichen Werthaltungen gibt. Erst diese ermöglichen in der Praxis die Gewährleistung des Wunsch- und Wahlrechts junger Menschen, das ihnen § 5 SGB VIII ausdrücklich zuspricht. Sogar die Verankerung einer Unvereinbarkeit mit rechtsextremen Akteuren, z. B. in der Vereinssatzung, ist Jugendverbänden möglich und häufig sinnvoll.12

3.  Praxis-Herausforderung: Öffentliche Veranstaltungen

An öffentlichen Veranstaltungen des Jugendverbandes sollten idealerweise alle jungen Menschen teilnehmen und mitdiskutieren können, die dies möchten. Was bei diesen Veranstaltungen passieren soll, an wen sie sich richtet und wer explizit nicht eingeladen wird, kann der Jugendverband selbst festlegen und bestimmen. Solange die allgemeinen Gesetze beispielsweise mit Blick auf das Strafrecht (Beleidigungen, Aufruf zu Straftaten etc.) eingehalten werden, gibt es im Rahmen der Meinungsfreiheit keine Grenzen.13 Auch mit Parteien und ihren Inhalten ist eine kritische, sachlich fundierte Auseinandersetzung stets möglich.

Es existiert auch kein genereller Anspruch einer Individualperson auf Teilnahme an einer Veranstaltung, die durch einen Jugendverband oder -ring verantwortet wird. Rechtsextreme behaupten zum Teil, sie müssen ebenso an allen Veranstaltungen teilnehmen können, da sie sonst aufgrund ihrer „Weltanschauung“ (§ 1 AGG) diskriminiert werden. Das ist falsch! Politische Überzeugungen oder eine Zugehörigkeit zu einer Partei werden vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz nicht geschützt und sind im Sinne des Gesetzes keine „Weltanschauung“.14

4.  Praxis-Herausforderung: Kooperationen mit Schulen oder anderen öffentlichen Einrichtungen

Das staatliche Neutralitätsgebot gilt für Kommunen und Schulen. Es verpflichtet ihre Angestellten und besonders die Beamt*innen dazu, keine Parteien zu bevorzugen oder einseitig auf die politische Meinungsbildung Einfluss zu nehmen. Es beeinflusst auch ihre Perspektive auf gemeinsame Aktivitäten in der Kooperation mit Jugendverbänden und -ringen. Dennoch führt das staatliche Neutralitätsgebot auch für sie hier nicht zu Gleichgültigkeit gegenüber menschenfeindlichen Positionen. Im Gegenteil, staatliche Einrichtungen sind den Werten des Grundgesetzes verpflichtet. Sie haben daher eine Pflicht, Positionen, die die Menschenwürde infrage stellen oder andere Grundwerte des Grundgesetzes angreifen, zu widersprechen.

Bei der Kooperation von Jugendverbänden und -ringen mit Schulen ist es wichtig, dass das staatliche Neutralitätsgebot nicht pauschal auf Jugendverbände ausgedehnt wird. Es braucht vorab eine Klärung und ein gegenseitiges Verständnis über die verschiedenen Erwartungen. Jugendverbände werden auch durch Kooperationen mit Schulen nicht pauschal dem staatlichen Neutralitätsgebot unterworfen. Die Deutsche Vereinigung für politische Bildung (DVPB) formuliert zudem deutlich: „Schule ist ein Ort demokratischer Auseinandersetzung […]“ und „aus den Geboten zur parteipolitischen Neutralität oder zur politischen Mäßigung von Beamt*innen ist nicht abzuleiten, dass sich Lehrkräfte zu menschen- oder demokratiefeindlichen Äußerungen neutral verhalten müssen.“15 Weiterhin stellte die Kultusministerkonferenz im Jahr 2023 klar: „Eines der obersten Ziele schulischer Bildung überhaupt ist es, junge Menschen zu befähigen, sich in der modernen Gesellschaft zu orientieren und politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen und Probleme kompetent zu beurteilen. Dabei sollen sie ermuntert werden, für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Gerechtigkeit, wirtschaftliche Sicherheit und Frieden einzutreten.“16 Bei Kooperationen mit Schulen gibt es keine bundeseinheitlichen rechtlichen Vorgaben. Es gelten die jeweiligen Schulgesetze der Bundesländer, die in ihrem Rahmen dennoch sicherstellen müssen, dass politische Bildung weder indoktrinierend noch menschenfeindlichen Positionen gegenüber indifferent ist.

Frage aus der Praxis: Wenn wir Workshops gemeinsam mit Schulen veranstalten, dürfen wir uns politisch äußern? Bei Workshops, die die Auseinandersetzung mit politischen Themen zum Inhalt haben und von Jugendverbänden in Kooperation mit Schulen durchgeführt werden, können Positionierungen und Haltungen des Jugendverbands eingebracht werden. Wichtig ist, dass diese als solche Haltung des Verbandes oder als persönliche politische Einstellung transparent gemacht werden. Wenn nach eigenen Ansichten gefragt wird, können diese freiwillig mitgeteilt werden. Sie dürfen dann nicht als allgemeine Wahrheit, sondern als persönliche Ansicht oder Ansicht des Jugendverbandes als eine mögliche Position erscheinen.

Jugendverbände und -ringe sind unter Druck – sie brauchen Handlungssicherheit

Zunehmend geraten Jugendverbände und -ringe unter Druck, weil sie aufgrund ihres
Werteprofils im Konflikt mit rechtsextremen Parteien und Organisationen stehen und dies auch öffentlich äußern. Wie alle zivilgesellschaftlichen Organisationen sind sie jedoch Träger von Grundrechten. Daran ändert auch beispielsweise eine Förderung nichts. Insbesondere für Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse ist dies in § 12 SGB VIII explizit geregelt: „Die eigenverantwortliche Tätigkeit der Jugendverbände und Jugendgruppen ist unter Wahrung ihres satzungsgemäßen Eigenlebens […] zu fördern.“ Durch die Satzung, auf die hier Bezug genommen wird, werden die Werte des jeweiligen Jugendverbandes definiert, die auch sein Eigenleben bestimmen.17 Die ständige Wiederholung von Neutralitätsansprüchen gegenüber Jugendverbänden und -ringen sorgt jedoch für immer mehr Unsicherheiten und Fehleinschätzungen bei Ehrenamtlichen und Mitarbeitenden im Verband sowie in den Verwaltungen. Oft wird besonders dort in vorauseilendem Gehorsam gehandelt, wo rechtsextreme Parteien bereits in Parlamenten und Entscheidungsgremien sitzen oder Budgetverantwortung haben. Dies kommt z. B. dadurch zum Ausdruck, dass zu politischen Themen geschwiegen wird, zu denen die Zivilgesellschaft ein Recht und eine moralische Pflicht auf Mitsprache hat. Die demokratische Zivilgesellschaft mit ihren vielfältigen Wertehaltungen muss ihre kritische Positionierung aufrechterhalten und die Grundrechte verteidigen. Der Mythos eines für sie geltenden Neutralitätsgebotes und die inakzeptable Praxis der Übertragung des staatlichen Neutralitätsgebotes stellen eine ernsthafte Bedrohung der Freiheit der Jugendverbände und -ringe und ihrer unverzichtbaren Funktion innerhalb der Demokratie dar. Dem muss mit Haltung und Handlungssicherheit begegnet werden.

Dieser Beitrag möchte explizit Jugendverbände und -ringe in ihrer Arbeit stärken. Die hier beschriebenen Umstände gelten darüber hinaus größtenteils für die gesamte demokratische Zivilgesellschaft.

 

 

Fußnoten

1 Im Weiteren ist von „Jugendverbänden und -ringen“ die Rede. Damit sind ebenfalls alle Formen von Jugendgruppen gemeint.

2 Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 02.03.1997 – 2 BvE 1/76 aufzurufen u.a. über openjur.de/u/185031.html

3 Vgl. u. a. „BVerfG zum Neutralitätsgebot von Regierungsmitgliedern und dem Recht auf Chancengleichheit von Parteien“ in JuraBlog (erschienen am 24.8.2022) – https://jura-online.de/blog/2022/08/24/bverfg-zum-neutralitaetsgebot-von-regierungsmitgliedern-und-dem-recht-auf-chancengleichheit-von-parteien/

4 Demokratisch und nicht indifferent – Orientierungen und Positionierungen zum Neautralitätsgebot in der Kinder- und Jugendhilfe. Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ. Online unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2023/Positionspapier_Neutralitätsgebot.pdf

5 So gibt es beispielsweise viele THW-Jugend-Vereine sowie Jugendfeuerwehr-Vereine, die damit nichtstaatlich organisiert sind.

6 Zum Problem, inwieweit diese Narrative auch bei staatlichen Akteuren verfangen, sowie weitere grundlegende Gedanken dazu z. B. hier: https://verfassungsblog.de/weaponized-neutrality/

7 Vgl. Hufen (2018), „Politische Jugendbildung und Neutralitätsgebot“ in: Recht der Jugend und des Bildungswesens – RdJB, Jg. 66, Heft 2, S. 216 – 221.

8 S. 24 www.institut-fuer-menschenrechte. de/publikationen/detail/das-neutralitaetsgebot-in-der-bildung

9 Weitere Ausführungen finden sich in der DBJR-Position „Politische Bildung stärken und schützen“. Online unter: www.dbjr.de/artikel/politische-bildung-staerken-und-schuetzen

10 Mehr dazu siehe z. B. hier, S. 11 https://shop.bjr.de/media/pdf/59/03/b7/_0665_AH_Jugendarbeit-und-Demokratie-Bildung.pdf

11 Vgl. auch Weitzmann (2021), Nichtneutralität als Qualitätsstandard der Jugendarbeit, FORUM Jugendhilfe 3/2021, S. 11–15.

12 https://www.raa-mv.de/aktuelles/nachrichten/neuauflage-im-verein-gegen-vereinnahmung/

13 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/306444/meinungsfreiheit-und-ihre-grenzen/

14 Siehe BeckOK BGB/Horcher, 68. Ed. 01.11.2023, AGG § 1 Rn. 52 (Stand: Berlin, Mai 2024)

15 Positionspapier „Demokratie braucht Politische Bildung, keine Neutralität!“: dvpb.de/nicht-neutral/ sowie auch „Lehrkräfte müssen nicht neutral sein“ der GEW: www.gew.de/aktuelles/
detailseite/lehrkraefte-muessen-nicht-neutral-sein und bpb: https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/292674/was-man-sagen-darf-mythos-neutralitaet-in-schule-und-unterricht/

16 Kultusministerkonferenz (2023): Demokratiebildung. Zielsetzung und Aktivitäten der Kultusministerkonferenz, www.kmk.org/themen/allgemeinbildende-schulen/weitere-unterrichtsinhalte-und-themen/demokratiebildung

17 Siehe auch DBJR-Position „Politische Bildung in der Jugendverbandsarbeit“. Online unter: https://www.dbjr.de/artikel/politische-bildung-in-der-jugendverbandsarbeit

 

Projekt „Gegenrechtsschutz“: https://gegenrechtsschutz.de

Beutelsbacher Konsens: https://profession-politischebildung.de/grundlagen/beutelsbacher-konsens/

 

Linkliste zum Text: www.ljr-hh.de/index.php

 

 

Themen: Haltung statt Neutralität