Bündnis-Appell: EU-Kindergarantie zum Erfolg machen!
Umsetzung der Europäischen Kindergarantie in Deutschland – Kinderrechtliches Eckpunktepapier zum Nationalen Aktionsplan
Wir begrüßen, dass sich die deutsche Bundesregierung im Juni 2021 gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur Umsetzung der Europäischen Kindergarantie1 entschlossen hat. Kinderarmut und soziale Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen sind auch in Deutschland ein tiefgreifendes Problem: Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen. Auf diesem hohen Niveau stagniert die Kinderarmut trotz guter wirtschaftlicher Entwicklung seit fast zwei Jahrzehnten. Armut wirkt sich mehrdimensional auf das Leben, die Entwicklung und die Zukunftschancen von Kindern aus. Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, sind häufi g in besonderem Maße von Benachteiligung und sozialer Ausgrenzung betroffen. Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass sich die neue Bundesregierung – auch untersetzt durch Maßnahmen im Koalitionsvertrag – zum Ziel gesetzt hat, allen Kindern und Jugendlichen gleiche Chancen zu ermöglichen sowie Kinderarmut und damit zusammenhängende soziale Ausgrenzung auch im Rahmen eines sozialen Europas zu bekämpfen.
Mit einer effektiven Umsetzung der Europäischen Kindergarantie kann die Bundesregierung maßgeblich zur Umsetzung des Rechts aller Kinder auf gutes Aufwachsen beitragen. Gleichzeitig leistet sie damit einen Beitrag zur Umsetzung der EU-Kinderrechtsstrategie sowie der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK), zu der sich Deutschland vor dreißig Jahren verpflichtet hat.
Damit die Europäische Kindergarantie in Deutschland Wirkung entfalten kann, sollten bei der Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans aus kinderrechtlicher Perspektive folgende Punkte beachtet werden:
Prekäre Lebenssituationen in den Fokus stellen
Die Europäische Kindergarantie empfi ehlt den Mitgliedstaaten, zunächst zu bestimmen, welche Kinder und Jugendlichen einer besonderen Unterstützung bedürfen. Dabei sollen spezifi sche Formen der Benachteiligung berücksichtigt werden, die bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen und ihre Familien erleben, die besonders von Armut und Ausgrenzung bedroht sind. Die Kindergarantie
muss dabei ihrem Namen und Anspruch gerecht werden und darauf hinwirken, allen Kindern und Jugendlichen soziokulturelle Teilhabe und gleichberechtigten, niederschwelligen und diskriminierungsfreien Zugang zu breitgefächerten staatlichen und freigemeinnützig erbrachten sozialen Diensten zu garantieren. Grundlage hierfür sollten spezifi sche Lebenssituationen von Kindern und Familien sein, die Armut und andere Formen der sozialen Ausgrenzung begünstigen. Der Fokus auf prekäre Lebenssituationen bzw. -lagen wird der individuellen Realität der betroffenen Kinder und Familien besser gerecht und erlaubt,
intersektionale Benachteiligungen besser zu erfassen. Er kann somit dazu beitragen, die Kinderrechte für alle Kinder effektiver umzusetzen.
Umfassende Kinder- und Jugendbeteiligung ermöglichen
Wir sind überzeugt, dass eine umfängliche Erfassung der armutsgefährdenden Lebenssituationen und geeigneter Präventionsansätze, um Folgen von Armut und damit soziale Ausgrenzung abzumildern, nur durch umfassende Kinder- und Jugendbeteiligung erfolgen kann. Die Berücksichtigung und Einbeziehung der Perspektiven von Kindern und Jugendlichen kann sicherstellen, dass Lücken in der Erfassung der Zielgruppen geschlossen werden. Dafür sollten bestehende Strukturen, wie Schulen, Kitas und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, sowie die Erfahrungen und Ergebnisse basierend auf bereits durchgeführten Beteiligungsverfahren genutzt werden.
Die Beteiligung junger Menschen muss sowohl bei der Erarbeitung als auch der Umsetzung des deutschen Aktionsplans grundlegender Bestandteil sein. Dazu gehören Fokusgruppendiskussionen, um gezielt die Perspektiven armutsbetroffener Kinder und Jugendlicher einzuholen, die in bestehenden Daten und
Befragungen oft nur unzureichend oder gar nicht repräsentiert sind. Auch eine breitgefächerte, ständige Form der Beteiligung über den gesamten Zeitraum der Umsetzung des Aktionsplans bis 2030 hinweg sorgt dafür, dass die Maßnahmenplanung an den Bedürfnissen der Betroffenen ausgerichtet wird. Auch dabei
sollte an bestehende Strukturen und Beteiligungsgremien auf der Länder- und kommunalen Ebene, wie z.B. an Kinder- und Jugendparlamente und ihre Dachverbände, Jugendverbände und Jugendringe, angeknüpft werden. Zu beachten sind hier die erprobten Qualitätsstandards einer gelingenden Kinder- und Jugendbeteiligung, wie sie im Nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005–2010“ erarbeitet wurden und derzeit unter Federführung des Deutschen Bundesjugendrings überarbeitet werden.
Koordination ressortübergreifend verankern
Die Mehrdimensionalität der Ursachen und Folgen von Kinderarmut erfordert ein Zusammenwirken aller politischen, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure bei der umfassenden Bekämpfung von Kinderarmut und sozialer Exklusion. Entsprechende Akteure sind von Beginn an zu identifi zieren und in die
Erarbeitung sowie die Umsetzung einzubeziehen. Das bedeutet auch, dass die Erarbeitung des Aktionsplans ressortübergreifend verankert werden muss. Neben dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) müssen auch andere Ministerien einbezogen werden, insbesondere das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) sowie das neue Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB). Der oder die nationale Koordinator*in sollte daher mit den nötigen Ressourcen und Kompetenzen ausgestattet werden, um eine umfassende Einbindung und Beteiligung zu realisieren. Zu überlegen wäre zudem, ob die Koordinationsstelle ministeriumsübergreifend, z.B. im Bundeskanzleramt angesiedelt wird.
Aktionsplan gemeinsam mit Ländern und Kommunen erarbeiten
Neben der Koordination über Ressortgrenzen hinweg muss auch die Zusammenarbeit über die politischen Ebenen hinweg sichergestellt werden. Neben der engen Abstimmung mit den Ländern ist insbesondere die Einbindung der kommunalen Verwaltung sowie lokaler öffentlicher und freier Träger notwendig, um sicherzugehen, dass die Maßnahmen bei den Kindern, Jugendlichen und Familien vor Ort ankommen. Eine Machbarkeitsstudie in Kooperation mit Kommunen ist sinnvoll, um Herausforderungen und Hürden bei der ebenen- und systemübergreifenden Zusammenarbeit zu erkennen und abzubauen.
Zivilgesellschaft und Wissenschaft einbeziehen sowie europäischen Austausch nutzen
Die Zivilgesellschaft als wichtige Akteurin muss sowohl bei der Erarbeitung als auch bei der Umsetzung und dem Monitoring aktiv und effektiv einbezogen werden. Grundlage hierfür ist ein transparenter Prozess, der verschiedenen Interessengruppen sowie entsprechenden Vereinen und Verbänden Beteiligung ermöglicht. Dabei gilt es auch hier, auf vorhandene Strukturen und etablierte Plattformen zurückzugreifen, wie beispielsweise die Nationale Armutskonferenz und der Ratschlag Kinderarmut, die National Coalition Deutschland - Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und die Arbeitsgemeinschaft der
deutschen Familienorganisationen. Hierfür kann ein breiter Dialogprozess nützlich sein, der alle relevanten Akteure (Kinder, Familien, allgemeine Zivilgesellschaft, Verbände, Politik und Verwaltungen) einbezieht.
Gleichzeitig sollte eine enge Anbindung an die aktuelle Forschung in diesem Bereich und möglichst auch eine wissenschaftliche Begleitung sichergestellt werden. Auch hier sind interdisziplinäre Ansätze wichtig.
In anderen EU-Staaten werden parallel ähnliche Pläne entwickelt. Trotz der unterschiedlichen Ausgangslagen kann Deutschland vom Austausch mit anderen Mitgliedstaaten nur profitieren, weshalb der internationale Austausch integraler Teil der Entwicklung und Umsetzung des Nationalen Aktionsplans sein sollte.
Ganzheitlicher Blick auf die Bekämpfung von Kinderarmut
Der Nationale Aktionsplan muss im Rahmen einer Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Kinderarmut und sozialer Ausgrenzung betrachtet und erarbeitet werden, die infrastrukturelle und fi nanzielle Maßnahmen zusammendenkt. Dabei sollten alle der in der Kindergarantie benannten Bereiche (Bildung, Betreuung, Gesundheit, Ernährung, Wohnen) gleichermaßen berücksichtigt werden. Die Einführung einer Kindergrundsicherung und die Neuberechnung des menschenwürdigen Existenzminimums sind mit Blick auf die materielle Unterstützung von Kindern und Familien wichtige Bausteine einer solchen Gesamtstrategie.
Darüber hinaus müssen das digitale Kinderchancenportal für Bildungs- und Teilhabeleistungen, der ab 2026 schrittweise eingeführte Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für
Grundschulkinder, der bedarfsgerechte Ausbau der psychischen Hilfsangebote, die Pläne für mehr Schulsozialarbeit sowie weitere relevante Maßnahmen des Koalitionsvertrags einbezogen werden. Grundsätzlich sollten aber alle Maßnahmen der Bundesregierung daraufhin überprüft werden, inwiefern sie sich auf die Situation von Kindern und Jugendlichen und insbesondere auf armutsgefährdete Gruppen auswirken.
Infrastruktur ausbauen und Fachkräfte qualifizieren
Teil der Gesamtstrategie muss zudem sein, in den Blick zu nehmen, wie die für die Kindergarantie relevante Infrastruktur ausgebaut sowie Orte und Angebote für Kinder und Jugendliche sowie ihre Familien erreichbar gemacht werden können. Nur wo Gesundheitsversorgung, Schulen, Freizeit- und Kulturangebote vorhanden
sind, kann der Zugang zu den in der Garantie genannten Diensten gewährleistet werden. Anstelle von zeitlich begrenzten Projektmaßnahmen sollten die Strukturen zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien dabei nachhaltig abgesichert werden. Dabei müssen vor allem das Stadt-Land-Gefälle und die unterschiedliche, oft nicht bedarfsorientierte Abdeckung in verschiedenen Stadtteilen berücksichtigt werden.
Um eine qualitativ hochwertige Infrastruktur zu schaffen, gilt es vor allem auch den Fachkräftemangel nachhaltig zu bekämpfen und das Fachkräftegebot zu sichern. Gerade im ländlichen Raum fehlt es vielerorts an Erzieher*innen, Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen und anderen Fachkräften. Die Qualität der in der Garantie benannten Dienste steht und fällt zudem mit der armutssensiblen und inklusiven Qualifi kation der genannten Fachkräfte. Was Qualität und Verfügbarkeit von Infrastrukturen und deren Zugänglichkeit betrifft, sind auch die Auswirkungen der Coronakrise kritisch in den Blick zu nehmen, denn in Folge der zugangsbeschränkten und geschlossenen Angebote sind viele junge Menschen gerade von den Angeboten ausgeschlossen worden, die Chancengerechtigkeit und das Recht auf gutes Aufwachsen umsetzen sollten.
Konkrete Ziele definieren und messen
Damit der Nationale Aktionsplan echte Wirkung entfalten und zielgerichtet weiterentwickelt werden kann, braucht es ambitionierte und über das in Deutschland bestehende Niveau hinausgehende, konkrete Ziele sowie Indikatoren, die Entwicklungen und Erfolge der Maßnahmen messen und abbilden können. Dabei sollte an bestehende Monitoring- und Berichtsverfahren, wie bspw. das Staatenberichtsverfahren zur UN-KRK und die UN-Nachhaltigkeitsziele, angeknüpft und die Zivilgesellschaft am gesamten Prozess beteiligt
werden. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass es weiterhin an genügend aussagekräftigen Daten fehlt, um die Umsetzung von Maßnahmen zur Armutsprävention und Bekämpfung von sozialer Exklusion zu überprüfen. Als Zielgruppe der Maßnahmen müssen die Perspektiven von Kindern und Jugendlichen bei der Bewertung eine zentrale Rolle spielen und die Weiterentwicklung der Maßnahmen anleiten.