Europapolitik

Developing Europe

Der DBJR-Hauptausschuss hat am 4. Dezember 2013 die Position „Developing Europe“ beschlossen:

Seit mehr als 60 Jahren leben wir in einem weitgehend befriedeten Europa, das uns viel zu selbstverständlich erscheint, dessen Zukunft aber zunehmend gefährdet wird. Längst steht nicht mehr nur die Frage im Raum, wie die Europäische Union weiterentwickelt werden kann, sondern auch eine partielle Rückabwicklung ist denkbar geworden. Selbstverständlich Geglaubtes, wie der Euro als Zahlungsmittel oder die Schengener Abkommen, welche im wahrsten Sinne des Wortes grenzenloses Reisen für EU Bürger_innen ermöglichen, wird immer öfter in Frage gestellt.

Die Idee ‚Europa‘

Die politische Idee der europäischen Einigung wurde mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft vor allem wirtschaftspolitisch umgesetzt. Gleichzeitig entwickeln besonders junge Menschen seit vielen Jahrzehnten eine weiterführende Idee von Europa.  Ausgehend von dem Streben nach Freiheit, welches die Menschen in Europa bis heute prägt und antreibt, gehen Jugendliche heute viel selbstverständlicher über Staatsgrenzen hinweg. Sie wachsen schon im Wohnumfeld, im Kindergarten, in Schule, Ausbildung, Studium und Beruf wie selbstverständlich neben vielen unterschiedlich kulturell geprägten Gleichaltrigen auf. In der Lebenswirklichkeit Jugendlicher in Europa erschließt sich ein rein wirtschaftlicher Zusammenhang in Europa nicht. Sie streben nach mehr inhaltlichem und freundschaftlichen Austausch und partnerschaftlicher Zusammenarbeit. Gerade im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Krisensituation beweisen Jugendliche ihr Interesse für einander über alle Grenzen hinweg.

Dort wo Regierungen teils gegeneinander arbeiten schafft es die Jugend den Zusammenhalt in Europa aufrecht zu erhalten und solidarisch miteinander umzugehen. Dies geschieht ausgehend von einer  Auseinandersetzung mit den je unterschiedlichen Kulturen und historischen Besonderheiten. Hier wächst das Verständnis für einander mehr und mehr.

Die anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa ist das Ergebnis einer einseitigen Politik, die zwar auf freien Handel und freie Kapitalflüsse setzt, die es aber versäumt hat, angemessene Regularien hierfür zu schaffen oder sich frühzeitig über Verschuldungsprobleme Gedanken zu machen. Diese Politik und die daraus resultierenden Probleme, wie etwa die in einigen EU-Ländern mittlerweile unerträgliche hohe (Jugend)Arbeitslosigkeit, führen zu Vertrauensverlusten der europäischen Bürger_innen in die europäischen Institutionen.

Deshalb und auch weil sich die zentralen politischen Akteur_innen vor den Wahlen oft nur auf Brandbekämpfung beschränkt haben, haben Befürworter_innen einer Renationalisierung Europas es leichter, als zuvor. Der Beinaheeinzug einer antieuropäischen, populistischen Partei in den Deutschen Bundestag liegt auch darin begründet, dass Probleme nicht benannt und keine konstruktiven Lösungsideen für sie kommuniziert wurden.

Ein Stück der Deutungshoheit wurde deshalb an antieuropäische Kräfte abgeben, die durchaus einige reale Probleme benennen, aber leider nur destruktive Lösungen anbieten.

Die Krise hat viele Ursachen. Zentral sind die Überschuldung zahlreicher Staaten oder privater Akteur_innen in einzelnen Mitgliedsstaaten. Ferner Konstruktionsprobleme des Euros, die seit langem bekannt sind und auch schon zur Einführung der Gemeinschaftswährung diskutiert wurden.  Ein weiterer Grund sind die Krisenbekämpfungsmaßnahmen, die einseitig auf Austerität setzen und mitursächlich dafür sind, dass die wirtschaftliche Entwicklung der am stärksten von der Krise betroffenen Staaten stagniert oder in der Rezession verharrt. Insgesamt betrachtet, ist die momentane Situation auch eine "politische Schuldenkrise", da die politischen Entscheidungsträger_innen durch frühzeitiges Handeln diese Krise hätten verhindern – oder zumindest abmildern – können.

Wir, die im Deutschen Bundesjugendring (DBJR) zusammengeschlossenen Jugendverbände, sehen mit großer Besorgnis, dass in der Diskussion um Ursachen und Folgen der Krise, durch gegenseitigen Schuldzuspruch Gräben zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten aufgerissen werden.

Wir sind auch in der Krise überzeugt davon, dass ein Rückfall in eine nationalistische Kleinstaaterei im Kontext der Globalisierung und des demografischen Wandels weder politisch, noch gesellschaftlich, noch wirtschaftlich sinnvoll ist.

Globale Probleme wie der Klimawandel, das rasante Wachstum der Weltbevölkerung, die steigenden Ernährungs- und Energiepreise, die unzureichende Regulierung des Finanzsektors oder die Friedenssicherung, müssen in einem supranationalen Kontext verhandelt werden, denn nur durch gemeinsames aktives Handeln können sie gelöst werden. Die EU schafft hierfür, zwar noch nicht ausreichende, aber deutlich bessere Möglichkeiten der politischen Gestaltungsmacht. Eine weitere Abgabe von Souveränitätsrechten, die die Nationalstaaten in den oben genannten Politikfeldern ohnehin kaum noch besitzen, auf die europäische Ebene würde die vergleichsweise progressiven Positionen der EU im globalen Kontext stärken.

Als junge europäische Bürger_innen sind wir davon überzeugt, dass nur die Fortsetzung des Integrationsprozesses eines friedlichen und demokratischen Europas zu einer gesicherten Zukunft für uns und die nachfolgenden Generationen beitragen wird.

Deshalb fordern wir die Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses zu bewahren und auszubauen:

  • Die Einführung einer gemeinsamen Währung ist einer der Grundpfeiler des europäischen Lebens und Wirtschaftsraumes. Dafür ist es zwingend notwendig, die große europäische Idee in den Vordergrund zu rücken, die mehr ist als ihre Reduzierung auf die Währungsunion. Den Austritt einzelner Mitgliedsstaaten aus der Eurozone lehnen wir entschieden ab.
  • Die Freizügigkeit in Europa ist ein hohes Gut und darf nicht durch kurzfristige und kurzsichtige Maßnahmen einzelner Nationalstaaten eingeschränkt werden. Es gilt, den Geltungsbereich des Schengener Besitzstandes stetig auf alle EUMitgliedsländer zu erweitern und verbindlich einzuhalten. Bezüglich der EU-Außengrenzen ist die Regelung des Dublin II-Abkommens, dass jenes Land, in dem Flüchtlinge über die Grenzen kommen, für die Behandlung von Asylanträgen (sogenannte „Erstland-Regel“) zuständig ist, abzuschaffen. Kosten und Verantwortung sind von allen Mitgliedsstaaten gemeinsam zu tragen. Die Drittstaatenregelungen bei politisch verfolgten Asylbewerber_innen sind weder im nationalen noch im europäischen Kontext akzeptabel. Wir fordern deshalb eine offenere, einheitliche und menschenwürdigere europäische Flüchtlings-, Asyl- und Migrationspolitik. Die jüngsten Vorfälle an der europäischen Mittelmeerküste machen uns zutiefst traurig und sind auch ein Produkt fehlgeleiteter deutscher Politik.
  • Ein gemeinsamer Arbeitsmarkt bedeutet auch gemeinsame soziale Verantwortung. Die soziale Sicherung ist im europäischen Kontext zu gewährleisten. Eine Angleichung der Lebensverhältnisse in der Europäischen Union ist erstrebenswert. Ideen, wie beispielsweise Mindestlöhne oder eine Arbeitslosenversicherung, sind europäisch zu denken und zu realisieren.

Europäisch denken heißt für uns solidarisch und zukunftsgerichtet zu denken:

  • Dass die Krise anhält und das Potential hat sich noch weiter zuzuspitzen, ist auch Ausdruck einer fehlenden finanziellen Solidargemeinschaft. Um mehr soziale Gerechtigkeit unter den Mitgliedsländern herzustellen und um den inneren Frieden in der Europäischen Union dauerhaft zu sichern, dürfen Transfers kein Tabu sein. Die für einen funktionierenden Fiskalföderalismus nötige Einführung genuiner europäischer Steuern, z.B. einer Finanztransaktionssteuer, einer europäischen Mehrwert oder Körperschaftssteuer, ist, insbesondere im Angesicht der stets schwierigen Verhandlungen um den Mehrjährigen Finanzrahmen, zu erwägen. Wir begrüßen die solidarische und auch wirtschaftlich sinnvolle Idee eines Altschuldentilgungsfonds. Als Ultima Ratio, um die Schuldentragfähigkeit von Mitgliedsstaaten zu sichern, darf auch ein Schuldenschnitt kein Tabu sein.
  • Um Solidarität und insbesondere eine finanzielle Solidargemeinschaft glaubhaft und erklärbar zu machen, müssen allerdings auch die Entscheidungen über Rahmenbedingungen zur Verwendung dieser Mittel auf europäischer Ebene getroffen werden und zwar nicht durch die Nationalstaaten, sondern durch einen echten demokratischen Prozess, an dem alle Menschen in Europa gleichermaßen beteiligt sind und der ausreichend Rücksicht auf die Interessen von Minderheiten nimmt.

Eine hohe Jugendarbeitslosigkeit hat nicht nur wirtschaftlich fatale Folgen, wie sich gerade in der europäischen Geschichte erkennen lässt: flächendeckende soziale Nöte und Perspektivenlosigkeit rufen oft falsche Heilsbringer auf den Plan und ebnen den Weg für nationalistische Radikalisierungen. Auch deshalb ist die durch die ökonomischen Krisen entstandene, erschreckend hohe Jugendarbeitslosigkeit in einigen Staaten als gesamteuropäisches Problem anzusehen und als solches solidarisch zu lösen. Gerade die jungen Menschen in denen von der Krise am schwersten erschütterten Ländern, sollen jetzt von den Chancen eines vereinten Europa profitieren!

So ist etwa:

  • Die Mobilität junger Menschen konsequent, gezielt und sozial gerecht zu unterstützen. Zu fokussieren sind insbesondere Jugendliche mit geringerem Bildungskapital und niedriger Bildungsherkunft. Der europäische öffentliche Personenschienenfernverkehr stellt dabei in der Praxis ein zentrales Element dar, um dies auf ökologisch nachhaltigem Wege zu garantieren.
  • Austauschprogramme sind auszubauen. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur europäischen Verständigung und der Entwicklung einer kollektiven europäischen Identität über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg. Jugendverbände spielen hierbei, neben Programmen wie der Studierendenmobilität, eine zentrale Rolle. Beide Aktivitäten dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Förderung der Jugendverbandsarbeit und der außerschulischen Bildung sowohl im europäischen als auch im internationalen Kontext, muss gewährleistet und weiter ausgebaut werden. Dies gilt auch für kultur und kontinentübergreifende Maßnahmen mit Jugendlichen aus Europa und seinen Anrainerstaaten.
  • Europa muss als sozialer und kultureller Raum der hier lebenden Bürger_innen begriffen werden. In diesem Raum haben viele lokale und regionale Identitäten, Sprachen und kulturelle Gegebenheiten ihren Platz. Diese gilt es zu schützen – es soll kein europäischer Einheitsstaat entstehen. Vielmehr ist Vielfalt das zentrale Wesensmerkmal des europäischen Einigungsprozesses.
  • Die Berichterstattung über europapolitische Vorgänge erfolgt fast ausschließlich aus nationalstaatlicher Sicht, eine europäische Perspektive fehlt. Die EU wird dabei häufig zum Sündenbock gemacht. Europäisch zu denken erfordert auch aus europäischer Sicht informiert zu werden. Daher muss eine neue Form des Erklärens in Europa geschaffen und etabliert werden, z.B. durch einen europäischen öffentlich rechtlichen Rundfunk.

Die momentane Europäische Union leidet an schweren strukturellen bzw. institutionellen Konstruktionsfehlern, die es zu beheben gilt, um die Akzeptanz bei den Bürger_innen wieder zu erlangen:

  • Die EU und ihre Vorläufer wurden als Wirtschaftszusammenschlüsse gegründet und bisher auch so gelebt. Dies ist zu ändern und in einen föderalen Bundesstaat zu überführen, der für eine gemeinsame, subsidiäre und soziale Politik steht.
  • Wir fordern darüber hinaus die Schließung eines eigenständigen EUSozialvertrags. Dieser soll der sozialen Dimension, die Europa gewinnen muss, Ausdruck verleihen und entsprechende Grundsätze eines Sozialstaates auch übergreifend in der Europäischen Union verankern.
  • Um den europäischen Bürger_innen die Möglichkeit der Partizipation an ihrem Europa zu garantieren, ist es geboten auf dieser Ebene Instrumente politischer Teilhabe, wie die Europäische Bürgerinitiative, zu fördern. Sie ist als erstes transnationales Werkzeug direkter Demokratie eine große Chance für das europäische Projekt und zu einem echten direktdemokratischen Initiativverfahren auszubauen. Um jungen Menschen, gerade in älter werdenden Gesellschaften, die Möglichkeit zu geben ihre Zukunft politisch selbst mitzugestalten, ist europaweit das aktive Wahlrecht auf mindestens 16 Jahre zu senken und eine rechtliche Grundlage für europäische Jugend und Auszubildendenvertretungen analog zu europäischen Betriebsräten zu schaffen.
  • Die Gewaltenteilung in den europäischen Institutionen ist nicht hinreichend demokratisch und ein großes Problem. Es gilt die Macht des Europäischen Rates  zurückzudrängen und das Europäische Parlament als demokratisch gewählte Vertretung der Bürger_innen zu stärken. Bewirken könnten dies beispielsweise die Einführung eines Initiativrechtes, die Bestellung europäischer Spitzenkandidat_innen für das Amt der/des Kommissionspräsident_in und die Ausweitung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens auf alle EUPolitikfelder.
  • Nach den Europawahlen 2014 ist ein europäischer Konvent einzuberufen, um die institutionellen Probleme, die im Zuge der Eurokrise offenkundig geworden sind, zu lösen. Ein beschleunigtes Vertragsänderungsverfahren hinter verschlossen Türen, das im Wesentlichen nur von den Regierungen gestaltet wird, lehnen wir entschieden ab. Das Konventsverfahren nach Artikel 48 des EUVertrages garantiert die Beteiligung der Volksvertreter_innen aus dem EU-Parlament und den nationalen Parlamenten und verhindert, dass die Exekutive weiterhin unbotmäßig gestärkt wird. Vor und während des Konventes muss die organisierte Zivilgesellschaft einbezogen werden. Vorkonvente, in die Vertreter_innen zivilgesellschaftlicher Organisationen entsandt werden, stellen nach Ansicht des DBJR eine gute Möglichkeit dar, Beteiligungsmöglichkeiten, die einen öffentlichen Diskurs befördern, zu schaffen. Ein paneuropäisches Referendum nach Abschluss des Konventes ist anzustreben.

Wir, die Mitgliedsorganisationen des DBJR, glauben fest an die europäische Idee und werden mit unserer Arbeit weiterhin unseren Teil zu ihrer Realisierung beitragen.

Mehrheitlich bei sechs Enthaltungen beschlossen auf der Sitzung des Hauptausschusses am 4. Dezember 2013 in Berlin.

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