Vollversammlung Bildung Demokratie

Eine demokratische Gesellschaft braucht eine demokratisierte Schule

Die Vollversammlung des Bundesjugendrings hat am 28./29.10.2022 die Position „Eine demokratische Gesellschaft braucht eine demokratisierte Schule“ beschlossen.

 

Wo wir stehen:

Der gesellschaftliche Auftrag der Schule, der in Deutschland im Schulgesetz eines jeden Bundeslandes festgehalten wird, liegt im Allgemeinen in der Entwicklung der Schüler*innen zu mündigen und verantwortungsvollen Persönlichkeiten. Er wird durch den sogenannten Doppelauftrag umgesetzt. Schule soll demnach nicht nur Bildung – also Wissen, Fähigkeiten und Werte im Unterricht vermitteln – sondern gleichzeitig junge Menschen auf ihre künftige Rolle als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft vorbereiten.

Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter verbringen einen erheblichen Teil ihrer Zeit in der Institution Schule. Diese Zeit ist nicht allein durch die gemeinsame Zeit mit Peers und Freund*innen, durch Lernen von Neuem oder durch das Einüben notwendiger sozialer Umgangsweisen gekennzeichnet, sondern auch durch festgeschriebene Lehrpläne, Benotung und die Autorität der Lehrer*innen; durch Fremdbestimmung und Zwang.

Was uns stört:

Obwohl das Leben von Kindern und Jugendlichen maßgeblich von diesen Rahmenbedingungen geprägt wird, haben sie zurzeit kaum Möglichkeiten, diese mitzugestalten. Besonders in folgenden Punkten sehen wir Verbesserungsbedarf:

  • Obwohl der 16. Kinder- und Jugendbericht feststellt, dass Kinder und Jugendliche ausreichend Gelegenheit haben müssen, „sich im Rahmen und Kontext ihrer Schulzeit mit politischen, demokratischen und gesellschaftlichen Fragen zu Prozessen auseinanderzusetzen”, sind die Teilhabe und Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Schule bestenfalls unterentwickelt. Einerseits sehen die Landesgesetzgebungen keine ausreichenden Möglichkeiten für Schüler*innen vor, substanzielle Dinge in der Schule mitzubestimmen. Andererseits fehlt es Schüler*innen an Wissen, die wenigen Teilhabemöglichkeiten effektiv wahrnehmen zu können. Die formalen Möglichkeiten, die es in Form von Schüler*innenvertretungen gibt, offenbaren sich in der Realität als Luftschloss. Sie sind häufig nicht schulübergreifend angebunden oder können ihre formalen Teilhabemöglichkeiten gar nicht wirksam wahrnehmen, weil sie beispielsweise in der Schulkonferenz nicht über die nötigen Stimmen verfügen, um überhaupt einen Einfluss auf die Entscheidungen zu nehmen.

  • Die verschiedenen Qualifikationen, mit welchen die Schüler*innen aus den unterschiedlichen Schulformen entlassen werden, sind nicht einfach nur Unterschiede im Wissen, sondern begründen gleichzeitig den sozio-ökonomischen Status. Schule übernimmt eine Selektionsfunktion für den Arbeitsmarkt. Diese Funktion von Schule wird in der Schulpädagogik schon seit den 1980er Jahren erkannt. Dabei wird sich im Umgang mit diesem Umstand gerne auf den Föderalismus bzw. die politische Verantwortlichkeit auf Länderebene zurückgezogen. Gerade im dreigliedrigen Schulsystem organisiert die Schule die Selektion von Schüler*innen. So wird Schule zu einem Ort, der wie kein anderer über das zukünftige Leben junger Menschen entscheidet. Ein formaler Bildungsabschluss bestimmt über die Möglichkeiten am Arbeitsmarkt und somit über die Lebensperspektiven junger Menschen.

  • Das formale Bildungssystem in Deutschland zeichnet sich durch ein hohes Maß an sozialer Selektion und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit aus. Die Bildungschancen unterliegen mehr denn je einer deutlichen sozialen Ungleichheit und sind nach wie vor durch die Bildungsniveaus der Eltern beeinflusst. Das Versagen oder Bestehen in diesem System ist gesellschaftlich strukturell vorbestimmt. Dies verdeutlichen insbesondere die „Home-Schooling“-Phasen der letzten Jahre. Viele Schüler*innen müssen mangels Computer oder Tablets ihren Unterricht am Handy verfolgen, während des Unterrichts auf ihre kleinen Geschwister aufpassen oder haben schlicht keinen Raum, um ihre Aufgaben in Ruhe zu erledigen. Hier müssen vor allem jene zurückstecken, die schon in der allgemeinen Konkurrenz der Schule
    meistens benachteiligt sind.

  • Teilweise leistet Schule nur eine Beaufsichtigungsfunktion, damit Eltern weiter zur Arbeit gehen können. Fragen der Unterrichtsqualität oder der psychosozialen Gesundheit junger Menschen werden nachrangig und häufig ohne Beteiligung diskutiert.

Was wir fordern:

Schule und Bildung liegen in der Kompetenz der Länder, betreffen aber Jugendliche und Jugendverbände in der ganzen Bundesrepublik. Gerade Kinder und Jugendliche sollten die Möglichkeit erhalten, sich zu von ihnen benannten Missständen zu äußern. Dazu benötigt es demokratische Rahmenbedingungen im Schulsystem, in denen Räume dazu eröffnet werden. Eine große Chance ist dabei, dass die Jugendverbandsarbeit eine wichtige demokratische Funktion einnehmen kann. Deshalb muss der Bundesjugendring sich damit auseinandersetzen, wie Kinder- und Jugendverbände mit dem System Schule arbeiten können, ohne unter der Schullogik subsumiert zu werden. Dafür ist unter anderem eine Debatte darüber nötig, wie eine Demokratisierung von Schule aussehen kann, in der Kinder- und Jugendverbände wichtige und gleichberechtigte Partner*innen und Expert*innen sind, ohne dabei vereinnahmt zu werden.

  • Der Bundesjugendring setzt sich weiterhin politisch dafür ein, der aktuell verstärkten sozialen Ausgrenzung durch das formale Bildungssystem, beispielsweise durch Kompensation mangelnder Ressourcen, Unterstützung und Lernbegleitung entgegenzuwirken und selektive Strukturen abzubauen. Ziel ist eine Demokratisierung der Schule für alle.

  • Zusätzlich organisiert der Bundesjugendring einen Fachtag zum Thema „Kinder und Jugendverbände, Demokratie und Schule“, in dem es darum gehen soll, welche Rolle Kinder- und Jugendverbände in der Demokratisierung von Schule und der Stärkung von Schüler*innen
    gegenüber Schulbehörde, Schulleitungen und Lehrer*innen einnehmen können.

  • Von der Politik und den Ländern fordert der Bundesjugendring eine Anpassung des Systems Schule, bei der offen auf das Wissen und die Expertise aus der Kinder- und Jugendarbeit zurückgegriffen wird.

Mehrheitlich bei 3 Nein-Stimmen und 7 Enthaltungen beschlossen in der Vollversammlung am 28./29.10.2022.

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