Gemeinsame Herausforderungen der Kinder- und Jugendarbeit in Krisenzeiten
Wir leben in Zeiten einer medizinisch begründeten Ausnahmesituation, die weitreichende Maßnahmen erfordert und massive Einschränkungen im täglichen Leben mit sich bringt. Schulen und die Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit müssen geschlossen bleiben. Der Alltag von Kindern und Jugendlichen ist zurzeit davon geprägt, dass die Kontakte zu Gleichaltrigen und Freund*innen deutlich reduziert und in der Regel nur virtuell möglich sind. Der familiäre Alltag hat sich in vielen Fällen deutlich verändert und die eigenen Freiräume haben sich verringert. Das bedeutet (auch), dass es weniger „Auszeiten“ von der eigenen Familie gibt. Gleichzeitig ist die Zeit geprägt von Unsicherheiten, Sorgen und Ängsten.
Uns ist völlig klar: Gesundheit und Schutz hat an dieser Stelle Vorrang! Auch bei unserer Arbeit. Deshalb sind viele Verbände und Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit bereits frühzeitig den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) gefolgt und haben ihr Angebot eingeschränkt oder eingestellt. Die Angebote der Jugendverbände und Jugendringe sowie der gesamten Kinder- und Jugendarbeit sind aber für Kinder und Jugendliche und ihre Persönlichkeitsentwicklung sehr wichtig; gerade jetzt in der aktuellen Situation. Wir Ehren- und Hauptamtliche sowie Hauptberufliche der Kinder- und Jugendarbeit lernen gegenwärtig jeden Tag neu, wie wir mit dieser schwierigen Situation umgehen können. Wir erleben eine große Solidarität der Menschen untereinander und in vielen Einrichtungen eine große Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, zu unterstützen und kreativ auf neue Formate – insbesondere digitale – umzusteigen. Die hochkomplexe Lage erzeugt zugleich bei vielen Verantwortliche Ängste vor Liquiditätsproblemen. Sie sorgen sich sehr vor rechtlichen Problemlagen. Viele Hauptberufliche haben Existenzängste, weil sie den Verlust des Arbeitsplatzes fürchten.
Aktuell arbeiten wir mit Hochdruck daran, Angebote so anzupassen, dass sie in der derzeitigen Situation möglich sind. Wir schaffen neue Angebote, die durch die momentane Situation benötigt werden. Soweit es in unserer Macht steht, stellen wir sicher, dass nach dem Ende der aktuellen medizinischen Krise allen Kindern und Jugendlichen wieder die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung stehen – in der gewohnten und notwendigen Vielfalt an Werten, Konzepten, Methoden und Trägern. Dafür müssen wir als Akteure und Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit gemeinsam mit unseren Partnern, allen voran den öffentlichen Trägern in den Ländern und Kommunen sowie dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die akuten existentiellen Bedrohungen abwenden. Diese sind vor allem:
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Die Absagen von Maßnahmen führen teilweise zu sehr hohen Stornokosten von Unterkünften, Busunternehmen etc. Zugleich fehlen den Trägern die Teilnahmebeiträge zur Finanzierung der anfallenden Ausgaben. Auch wenn Stornokosten zumindest auf Bundesebene und in vielen Bundesländern angesichts der Lage durch den sich ausbreitenden neuen Corona-Virus (SARS-CoV-2) und die dadurch notwendigen Maßnahmen als zuwendungsfähig eingestuft werden, entsteht dadurch – ein größeres finanzielles Defizit – anders als wenn die Maßnahmen durchgeführt worden wären. Zudem gilt die Regelung der Anerkennung von Stornokosten aktuell noch nicht sicher in allen Bundesländern und bei allen örtlichen (öffentlichen) Trägern.
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Die meisten unserer Möglichkeiten, Dritt- oder Eigenmittel zu generieren, sind weggebrochen (z. B. Spendensammlungen oder Veranstaltungseinnahmen). Diese Mittel dienen zur Gegenfinanzierung von Maßnahmen und sind zu allen andern geförderten Aktivitäten eine wichtige Finanzierungssäule in der Jugendverbandsarbeit. In Bildungsstätten, Gruppenhäusern, Zeltlagerplätzen und vergleichbaren Jugendfreizeitstätten wurden und werden die Buchungen von Schulklassen, Jugendgruppen etc. storniert. Unsere Kosten für Personal und Gebäude bleiben aber bestehen. Ohne finanzielle Unterstützung müssen Einrichtungen schließen – auf Dauer! Oft werden kleinere Freizeitstätten von Trägern betrieben, die dann ebenfalls zahlungsunfähig wären. Erste Häuser mussten bereits Kurzarbeit ankündigen; das ist aber aufgrund von Teilzeitbeschäftigungen nicht bei allen Trägern möglich.
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Bei Jugendzentren, Häusern der offenen Tür und ähnlichen Einrichtungen sowie vielen anderen derzeit nicht durchführbaren Angeboten und Maßnahmen nach § 11 SGB VIII ist teilweise unklar, ob öffentliche Zuschüsse auch gezahlt werden, wenn Einrichtungen längerfristig geschlossen bleiben müssen bzw. die Angebote nicht durchführbar sind.
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Verschärfend kommt hinzu, dass wir als Jugendverbände oder andere freie Träger mehrheitlich gemeinnützig sind und daher keine oder nur sehr geringe Rücklagen bilden konnten. Damit drohen vielen von uns akut die Zahlungsunfähigkeit und damit der Gang in die Insolvenz, sollten Zuwendungen aufgrund von Engpässen beim öffentlichen Träger nicht fristgerecht gewährt werden.
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Die aktuelle Situation erschwert zunehmend die Verwaltungsarbeit, die Fördermittelbewirtschaftung, die Arbeit der Gremien und vieles mehr – dies vor allem bei den vielen kleinen Vereinen und Verbänden und Gliederungen, die oft nicht über eine professionelle Geschäftsstelle mit allen Möglichkeiten zur virtuellen Arbeit verfügen, die oft gar keine hauptamtlichen Mitarbeitenden haben und deren ehrenamtlichen Verantwortungsträger nun ihre ehrenamtliche Funktion unter den deutlich schwierigeren Umständen wahrnehmen müssen. Das alles zusätzlich zu den Belastungen, die auch sie als Familienmitglieder, Schüler*in, Auszubildende, Studierende oder in ihrem beruflichen Kontext haben.
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Jugendverbände sind in der Trägerschaft, in Pacht oder Besitz von vielfältigen Einrichtungen wie Übernachtungshäusern, Bildungsstätten, Treffs etc.. Deren Existenz macht eine Kinder- und Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit, so wie wir sie kennen, erst möglich , weil sie die Orte und Räume sind, an denen Jugendarbeit gelebt wird. Hier kommen die meisten der oben genannten Probleme verstärkt zusammen:
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Einnahmeausfalls durch Storno und/oder behördliche Schließung – egal in welcher Form;
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hohe bereits getätigte Ausgaben (z. B. Beschaffung von Material und Lebensmitteln);
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hohe Unterhaltskosten auch im geschlossenen Zustand, zumindest wenn eine schnelle Wiedereröffnung nach Ende der aktuellen Situation gewährleistet sein soll;
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wenig Möglichkeiten, die Einrichtungen anders zu nutzen;
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kaum Rücklagen;
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oft kein „Nachholen“ der Angebote / Belegungen möglich;
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wahrscheinlich mit am längsten vom aktuellen Zustand betroffen, vor allem wenn sonst viel internationale Gäste kommen.
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Der Alltag von Kindern und Jugendlichen wird auch in den kommenden Monaten deutlich anders verlaufen als bisher. Hier brauchen wir eine Kinder- und Jugendpolitik und eine Kinder- und Jugendhilfe, die flexibel nach Lösungen suchen und Ideen und Perspektiven für die Zeit nach dieser Krise und den Übergang in die Normalität entwickeln. Dazu gehören:
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der Erhalt aller Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, die auch in den aktuellen Zeiten möglich sind und bei Bedarf ausbauen; dort, wo dies nicht möglich ist, prüfen, ob durch dies durch andere Formate Kanäle etc. ermöglicht werden kann,
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das Prüfen, welche Angebote der Kinder- und Jugendarbeit mit Bezug auf die aktuelle Situation neu geschaffen oder ausgebaut werden sollten und die ggf. ermöglichen und
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der Erhalt der großen und vielfältigen Trägerlandschaft der Kinder- und Jugendarbeit auf allen föderalen Ebenen trotz der Einschränkungen durch die Krisensituation hindurch, damit danach alle Angebote möglichst schnell wieder zur Verfügung stehen
Um die nächsten Monate als Vereine, Verbände und Organisationen überstehen und anschließend diesen Übergang in die Normalität gewährleisten zu können, muss gemeinsam in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit der öffentlichen Seite schnellstmöglich gehandelt werden.
Formalia
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Die Möglichkeiten von Fristverlängerungen (Verwendungsnachweise, Anträge, nicht-fristgerecht mögliche Gremiensitzungen etc.) sollten proaktiv und allgemein durch die zuständigen Stellen gewährt werden, ohne dass dafür Einzelanträge nötig sind.
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Die Einhaltung des Erfordernisses der Schriftlichkeit stellt derzeit eines der Probleme in diesem Bereich dar. Hier sollten ebenfalls proaktiv durch die Verwaltungen alle Möglichkeiten genutzt und kommuniziert werden, darauf zu verzichten, damit auch bei mobilem Arbeiten weiterhin Arbeitsfähigkeit von Haupt- und Ehrenamt ermöglicht wird. Möglichkeiten sind die Textform (Mails statt Briefe) oder die Akzeptanz von gescannten Dokumenten statt Originalen etc.
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Die Einsicht in aktuelle Erweiterte Führungszeugnisse unsere Ehrenamtlichen und Hauptberuflichen ist in vielen Fällen lt. § 72a SGB VIII für ihr tätig werden Voraussetzung. Derzeit ist das Einholen der Erweiterten Führungszeugnisse jedoch kaum möglich, unter anderem weil die zuständigen Bürger*innen-Ämter meist geschlossen haben. Dafür benötigen wir eine schnelle Lösung.
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Vorübergehend müssen virtuelle Treffen der Vereinsgremien laut Satzung, auch wenn dies in den Satzungen oder im BGB (oft) noch nicht als Möglichkeit verankert ist, durch die entsprechenden Stellen (Vereinsregister, Fördergeber etc.) akzeptiert werden.
Förderung
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Es bedarf einer flächendeckenden Anerkennung der Förderfähigkeit von Stornogebühren und Ausfallhonoraren.
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Die vereinbarten oder vorgeschriebenen Eigenleistungen, die derzeitig oft nicht erbracht werden können, müssen reduziert werden. Unter anderem auch deshalb, weil die Erwirtschaftung von Eigenmittel bzw. Drittmittel derzeit nicht möglich ist.
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Die Ausfälle von Maßnahmen bzw. Seminarstunden, die Basis für die Förderung nach Teilnehmer*innentage ist etc., dürfen weder direkt (Rückforderungen) noch indirekt (wenn sie z. B. Grundlage der Berechnung der Zuschüsse für Folgejahr sind) zu Lasten der Fördernehmer gehen lassen.
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Derzeit sind Juleica-Ausbildungen nicht möglich. Teilweise sind Unterstützungsleistungen aber auch die Zuschüsse, die Vereine oder Verbände bekommen, an den Besitz einer Jugendleiter*innen-Card bzw. an die Zahl der Ehrenamtlichen mit Juleica gekoppelt. Dieser Mechanismus darf in der aktuellen Situation nicht zu Nachteilen für die Vereine oder Verbände führen. Dafür sind Übergangsregelungen notwendig.
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Zweckbindungen und andere Vorgaben im Rahmen der Förderbescheide müssen auf ihre Notwendigkeit in der aktuellen Situation überprüft und ggf. geändert bzw. aufgehoben werden.
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Die ohnehin geplanten Fördermittel, die nun nicht genutzt werden können, müssen zur Liquiditätsunterstützung verwendet werden dürfen.
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Umwidmungsspielräume müssen für die Aufgaben einer digitalen Modernisierung (Software, Hardware, Fortbildungen) in den Organisationen und für Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen vorhanden sein.
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Virtuelle Angebote wie Webinare, Gruppenstunden über Chat und Videokonferenz etc., müssen bundesweit förderfähig sein, wie dies z. B. im Rahmen der Förderung des KJP des Bundes bereits möglich ist.
Allgemeine wirtschaftliche Unterstützung
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Es braucht einen unkomplizierten Zugang für gemeinnützige Träger zu Wirtschaftshilfen und die Übernahme von Garantien für freie Träger durch den Staat.
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Es bedarf einer Stundung oder den Erlass von Rückzahlungen, Mieten und Pacht durch Bund, Länder und Kommunen.
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Die Unterstützung für Vereine und insbesondere deren Einrichtungen wie Jugendbildungsstätten, Zeltlagerplätze und Vereinshäuser muss durch das aktuell im Gesetzgebungsverfahren befindliche Sozialschutzpaket oder einen anderweitigen Nothilfefonds der öffentlichen Hand gewährleistet werden.
Wir begrüßen in diesem Zusammenhang den im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) diskutierten Vorschlag, die Verwendung der Mittel der „Deutschen Stiftung für Ehrenamt und Engagement“ (DSEE) in den ersten Jahren auch für von Corona ausgelöste Kompensations- und Modernisierungskosten zu nutzen.
Wir sind uns bewusst, dass im Bund, in den Ländern und in den Kommunen an Maßnahmen und an einer Unterstützung gearbeitet wird, etwa mit einem Sozialschutz-Paket. Manches erfüllt womöglich unsere Forderungen oder wird helfen, die Probleme der Kinder- und Jugendarbeit sowie Kinder- und Jugendhilfe abzufedern. Wir fürchten aber auch, dass die Kinder- und Jugendarbeit schnell vergessen wird und damit langfristig vor allem junge Menschen viel länger unter den Folgen dieser aktuellen Notlage leiden werden.
Einstimmig beschlossen im DBJR-Vorstand am 25. März 2020 in Berlin.