Halbzeitbilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
Foto: Lutz Gude (CC-BY-SA)
„Es ist eine besondere Wertschätzung gerade in diesen Zeiten persönlich zu einer Versammlung sprechen zu dürfen und diese seltene Gelegenheit möchte ich gerne wahrnehmen um euch ein wenig in mein Europa mitzunehmen, unsere DBJR-Politik im Rahmen der laufenden Ratspräsidentschaft darzustellen und auch so etwas wie eine Vision zu zeichnen.
Mein Europa ist ein buntes Europa mit verschiedensten Kulturen, in dem ich mich sehr gerne – am besten mit der Bahn – bewege, viel erlebt habe und sicher noch erleben werde und in dem ich viele Freundschaften pflege. Denn uns Europäer*innen verbindet viel und Europa ist für uns junge Menschen längst kein Projekt mehr. Europa ist selbstverständlich, in unsere Lebensrealität. Eine gemeinsame Währung, frei reisen und arbeiten, einander grenzenlos begegnen und Freundschaften zu schließen. Wir wollen ein freies, demokratisches und solidarisches Europa.
Wir haben der europäischen Integration viel zu verdanken. Und zugleich haben wir hohe Erwartungen an eine gemeinsame Zukunft. Deshalb stehen wir gemeinsam für unser Europa ein.
Trotz der Pandemie konnten wir am vergangenen Wochenende etwas Europa erleben: Zur Halbzeit der deutschen Ratspräsidentschaft haben wir gemeinsam mit dem Bundesjugendministerium die EU-Jugendkonferenz organisiert. Im Zentrum der Konferenz und im Zentrum der gesamten Trio-Präsidentschaft mit Portugal und Slowenien steht das Youth Goal 9: Räume und Beteiligung für Alle!
Bundesjugendministerin Franziska Giffey betonte die Bedeutung und sagte vor knapp 200 teilnehmenden Jugendlichen: „Es geht um Europa, um Demokratie, um Teilhabe. Und um den Raum, den junge Menschen brauchen, um Demokratie und Teilhabe zu lernen und zu erleben." Sie sprach sich dabei deutlich für ein Wahlalter ab 16 aus - in ganz Europa. Nehmen wir sie beim Wort!
Unabhängig vom Wahlalter wissen wir in den Jugendverbänden, wie wichtig Beteiligung ist. Deswegen kreisten auch alle Debatten darum, wie Beteiligung besser werden kann, welche Bedingungen sie braucht, was wichtig ist. In den Ergebnissen, die die Jugendvertreter*innen während der Konferenz erarbeitet haben, ist das sehr gut zusammengefasst:
- "Wir fordern Mitentscheidungsprozesse auf allen Ebenen mit jungen Menschen und Jugendorganisationen, die auf einer rechtlichen Grundlage umgesetzt werden.
- Wir fordern, dass Entscheidungsträger*innen Prozesse fördern und in diese investieren, die Stimmen junger Minderheiten verstärken und ihr direktes Engagement sicherstellen.
- Wir fordern einen neuen EU-Fonds, um Jugendräume einzurichten und zu erhalten.
- Wir fordern, dass die Europäische Kommission sichere digitale Räume für junge Menschen schafft. Sie muss die Unterstützung und Finanzierung der Entwicklung von Aktivitäten zur digitalen Kompetenz als eine der obersten Prioritäten in allen Programmen festlegen und diese horizontal auf europäischer Ebene priorisieren.
- Wir fordern Mittel, die für dauerhafte Strukturen der Beteiligung zur Verfügung stehen."
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte während der Konferenz per Videobotschaft: „Wir können jetzt den Weg bahnen in eine grünere Zukunft, in eine digitalere Zukunft und in ein demokratischeres Europa. Und dafür brauchen wir vor allem die jungen Menschen“. Sie würdigte, dass junge Menschen in ganz Europa in der tiefen Krise unendlich viel Solidarität und Initiative gezeigt haben. Und sie versprach uns: „Eure Generation verkörpert den europäischen Geist in Wort und Tat. Die Kommission ist auf Eurer Seite“. Daran werden wir sie gerne erinnern.
Die Ideen und Forderungen der Jugendkonferenz sollen in die Ratsschlussfolgerungen zu Demokratie und Jugend in Europa einfließen. Als DBJR leiten wir daraus unter anderem ab: Wir brauchen eine strukturelle Einbindung junger Menschen. Wir brauchen dazu feste Räume und Prozesse, zum Beispiel den Jugenddialog. Wir brauchen eine respektvolle und selbstorganisierte Zivilgesellschaft für eine starke Demokratie, die Themen wie beispielsweise Rechtsstaatlichkeit, Transnationale Listen oder auch das Initiativrecht des Europäischen Parlaments auf die Agenda setzt.
Ihr als JEF seid dabei natürlich ein unersetzbarer Motor, aber wirksame Beteiligung und Mitbestimmung junger Menschen an allen sie betreffenden Angelegenheiten sollte ein zentraler Bestandteil der Europäischen Youth Work Agenda sein. Das führt mich zur EU-Ratspräsidentschaft.
Die EU-Jugendkonferenz war ein Baustein der Agenda. Die Bundesregierung hat für ihre Ratspräsidentschaft ebenfalls angekündigt, die Jugendarbeit mit einer „Youth Work Agenda“ stärken zu wollen. Die Agenda soll vor allem die Koordination der Mitgliedstaaten verbessern, um in Europa die Rahmenbedingungen für gutes „Youth Work“ zu schaffen und Jugendaustausch zu sichern. Konkret erwarten wir von der Bundesregierung, dass sie sich hier für die folgenden drei Punkte stark macht: Sie muss die Rolle der Jugendverbände und -ringe als Werkstätten der Demokratie stärken und finanziell absichern. Sie muss die EU-Jugendziele in den Mitgliedstaaten umsetzen. Und sie muss die Qualität der Kinder- und Jugendarbeit sichern.
Zudem geht es darum, freiwilliges Engagement zu fördern und nicht zu verzwecken, was bei den Freiwilligendiensten bzw. beim Solidaritätskorps eine starke Gefahr ist. Für die Stärkung des Zusammenhalts und der europäischen Integration sind Jugendaustausche und Freiwilligendienste zentral. Die Jugendkonferenz, die Youth Work Agenda und die Konferenz über die Zukunft der EU sind gerade unsere Möglichkeiten, direkt auf politische Prozesse zu wirken. Die Bundesregierung möchte mit der Konferenz zur Zukunft der EU einen Dialog mit Bürger*innen führen. In der Konferenz geht es um die Grundwerte der Europäischen Union und zurecht übt ihr auch Kritik an den Beteiligungsmöglichkeiten an der Konferenz.
Eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft, eine demokratische Verfassung in Europa, Prinzipien wie Freiheit, Solidarität und Rechtsstaatlichkeit sind zentrale Themen für uns Jugendverbände. Wir dürfen deswegen nicht alleine auf die Regierungen vertrauen.
Wir müssen über diese Prozesse hinaus weiter aktiv bleiben. Es gibt genug Beispiele, die im „Weichspülprogramm“ der deutschen Ratspräsidentschaft gerade schmutzig bleiben. Ein Beispiel: Die Europäische Asyl- und Migrationspolitik, die mit den europäischen Werten vereinbar ist - was an den europäischen Außengrenzen passiert, ist schwer in Worte zu fassen. Das haben wir wörtlich schon in einer Grundsatzposition 2018 geschrieben. Leider hat sich die Situation seither verschlimmert: Täglich sterben Menschen im Mittelmeer. Es gibt illegale Pushbacks, zum Teil aufs offene Meer hinaus. Überfüllte Lager wie Moria werden auf griechischen Inseln errichtet. Europa macht die Grenzen dicht. Diese fehlgeleitete Politik entfernt sich immer weiter von Menschenrechten und Menschenwürde – den gemeinsamen europäischen Werten. Sie muss dringend beendet werden. Es ist nicht richtig, dass die EU Frontex ausbauen will, um Verfahren an den EU-Außengrenzen einzuführen. Das lehnen wir strikt ab. Die EU braucht ein europäisches Asylsystem, das solidarisch mit flüchtenden Menschen umgeht und mit den europäischen Werten vereinbar ist.
In einer Reform der Asyl- und Migrationspolitik muss sichergestellt werden, dass die europäische Reisefreiheit bei Jugendverbandsmaßnahmen auch für junge Flüchtende gilt. Jugendlichen mit Duldungsstatus sowie sich im Asylverfahren befindenden Jugendlichen ist oft nicht erlaubt, an außerschulischen Jugendbildungsmaßnahmen außerhalb Deutschlands teilzunehmen. Bei Klassenfahrten besteht ein Rechtsanspruch auf Teilnahme für geflüchtete Schüler*innen, der durch die sogenannte „Schüler*innensammelliste“ sichergestellt wird. Ein analoger Anspruch an außerschulischen Bildungsfahrten muss ermöglicht werden.
Und noch ein wichtiger Punkt:
Die Kriminalisierung von zivilen Seenotretter*innen muss umgehend beendet werden. Es braucht eine europäische Einwanderungspolitik mit einer solidarischen und fairen Verteilung mit einer europäischen Asylbehörde geschaffen werden. Dies ist unsere humanitäre Pflicht!
Ein anderes Thema, das uns junge Menschen bewegt: Wir brauchen eine europäische Sozialpolitik, die die Schieflage ausgleicht. Gut ein Viertel der jungen Menschen ist von Armut oder sozialer Exklusion bedroht. Aus unserer Sicht ist wichtig, dass über Mindestlöhne und eine Grundsicherung diskutiert und diese eingeführt wird. Es ist wichtig, die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen und den Europäischen Sozialfonds+ (ESF+) stärken. Gestärkt werden muss auch die Jugendgarantie. Diese Vorhaben begrüßen wir und wir erwarten, dass daraus bindende Vorgaben für ein soziales Europa entstehen. Worte und Programme allein reichen aber nicht. Die europäische Säule sozialer Rechte muss mit verbindlichen Gesetzen umgesetzt werden.
Unbedingt brauchen wir auch eine Europäische Klima- und Nachhaltigkeitspolitik, die die Klimakrise überwindet. Vorschläge wie der EU Green Deal klingen gut. Wir brauchen ein hohes Tempo bei der Klimaneutralität, bei einem europäischen Klimaschutzgesetz, bei Investitionen in eine nachhaltige Wirtschaft. Die Rede von Ursula von der Leyen zur Lage der Europäischen Union hat aber gezeigt, dass die Kommission noch stark im Wirtschaftswachstumsdenken verhaftet ist. Aus Sicht junger Menschen müssen andere Parameter gesetzt werden. Resilienz, Gemeinwohl und Wohlbefinden sind deutlich wichtiger als Parameter. Wohlstand muss anders definiert werden. Die sozial-ökologische Transformation im Sinne der 2030-Agenda muss gelingen und da geht es vor allem um sozialpolitische Aspekte und klare Regeln für Klima- und Umweltschutz. Mit dem Pariser Klimaabkommens trägt ein wichtiges Dokument den Namen einer europäischen Stadt für globale Notwendigkeit.
Die Analyse der Kommissionspräsidentin in ihrer Rede ist übrigens wieder soweit richtig. Sie sagte: Wir brauchen einen Wandel in unserem Umgang mit der Natur, in Produktion und Konsum, bei Freizeit und Arbeit, bei der Ernährung, bei Reisen und Transport. Sie beschwört die Klimaziele und verspricht, dass Europa bis 2050 klimaneutral ist. Wie der Wandel gestaltet werden könnte in Europa ist mir dabei leider nicht ganz klar geworden. Europa muss aber zeigen, dass es geht und wie es geht! Wir müssen deutlich machen, dass junge Menschen dabei eine große Rolle spielen. Und wir müssen dabei die europäischen Werte hochhalten. Eine weitere Gelegenheit dazu wird der Vorsitz Deutschlands im Europarat sein. Der steht für viele wesentliche Europäische Werte: Für Vielfalt, Menschenrechte, Freiheit und Solidarität.
Meine persönliche Vision für Europa orientiert sich daran, dass diese Werte Wirklichkeit bleiben und auch wieder werden und ich möchte nochmals Ursula von der Leyen mit ihren Schlussworten der Rede zur Lage der EU zitieren: „The future will be what we make it. And Europe will be what we want it to be. So let's stop talking it down. And let's get to work for it. Let's make it strong. And let's build the world we want to live in.“
In diesem Sinne: Wir brauchen Europa und Europa braucht uns!“
Beim Bundeskongress der JEF wurde Malte Steuber, der auch Mitglied der AG Europa beim DBJR ist, als Vorsitzender verabschiedet. Als neue Bundesvorsitzende der Jungen Europäischen Föderalisten wurde Clara Föller gewählt.