Demokratie

Impulse für eine starke Demokratie

Die DBJR-Vollversammlung hat am 28./29. Oktober 2011 die Position „Impulse für eine starke Demokratie“ beschlossen:

Zunehmend artikulieren Menschen jeden Alters in vielen europäischen Ländern – auch in Deutschland – ihre Interessen auf der Straße. Bei ihren Protesten machen sie deutlich, dass sie sich immer stärker als Opfer sozialer Ungleichheit sehen und dass sie ihre Interessen und Bedürfnisse bei Entscheidungen nicht ausreichend berücksichtigt finden. Junge Menschen zweifeln immer häufiger an demokratischen Entscheidungen, wenn sie hinter verschlossenen Türen getroffen, Alternativen nicht ernsthaft diskutiert oder Beschlüsse unter Vorspiegelung falscher Tatsachen gefasst werden. Der laute, aber gewaltfreie Protest ist in den meisten Fällen belebend für die Demokratie, weil er ihre Defizite aufzeigt und thematisiert. Viel gefährlicher für die Demokratie ist der leise Protest durch die wachsende Zahl der Unzufriedenen, die keine Perspektiven mehr sehen und die von der Gesellschaft abgehängt sind  oder sich abgehängt fühlen. Die Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse nehmen den lauten und leisen Protest sehr ernst. Aus ihrer Sicht ist es wichtig, die Defizite aufzugreifen. Sie sehen dringend die Notwendigkeit, Maßnahmen zur Stärkung der Demokratie zu ergreifen. Aus ihrer Sicht ist das demokratische System unserer Gesellschaft aus folgenden Gründen von besonderer Bedeutung.

Erstens sind Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse selbst Interessenvertretungen mit mandatierten Repräsentant/-innen. Ihr Ziel ist die Mitgestaltung unserer Gesellschaft im Interesse junger Menschen. Zweitens sind sie als Interessenvertretung junger Menschen Teil der Zivilgesellschaft und als demokratische Organisationen eingebunden in das demokratische System der Willensbildung und Entscheidungsfindung. Sie erreichen eine große Anzahl (junger) Menschen und sind in ihrer Gesamtheit flächendeckend aktiv. Ihre sich daraus ableitende Verantwortung für das demokratische System nehmen sie sehr ernst.

Drittens sind Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse selbst Organisationen der Zivilgesellschaft und damit Orte gelebter Demokratie, die als Gesamtheit der Jugendverbände von einer großen Wertepluralität bei gleichzeitig vorhandenem Kanon übergreifender Werte geprägt sind. Gleichzeitig ermöglichen sie es jungen Menschen, erste praktische Erfahrungen in einem demokratischen System zu sammeln und sind  auf Basis ihrer ständig neuen Erfahrungen Impulsgeber für die Gesamtheit der Zivilgesellschaft.

Daher geht es den Jugendverbänden in Hinblick auf die Demokratisierung im Besonderen um die Ausweitung der Mitwirkungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche bei allen sie unmittelbar betreffenden Entscheidungen und in allen sie betreffenden gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen. Dies gilt in Familie, Schule und Ausbildung, im Betrieb und an der Hochschule, aber genauso am            ort oder bei Entscheidungen zu Sozialleistungen für Kinder und Jugendliche oder der Entscheidung über Krieg und Frieden.

Dazu gibt es in einigen Bereichen rechtlich festgeschriebene Strukturen oder Prozesse, z. B. betriebliche Mitbestimmung, Schüler/-innen-Vertretung, kommunale Mitbestimmung etc. In anderen Bereichen wie z. B. der Kinder- und Jugendhilfe ist sie als Anforderung normativ festgeschrieben. Noch immer sind solche verfassten Strukturen viel zu selten und auf einzelne Bereiche beschränkt. Und selbst dort, wo sie existieren, werden die Beteiligungsmöglichkeiten nicht ausreichend gewährleistet. Oft sind Möglichkeiten beschränkt und die Mitwirkung bleibt ohne sichtbare Wirkung.

Die Forderung nach einer Demokratisierung zielt weiter darauf ab, Demokratie zu einem Maßstab für das Zusammenleben in der Gesellschaft zu machen. Unsere Forderung nach einer grundlegenden Demokratisierung der Gesellschaft – egal ob in Schule, Familie oder Ausbildung – ist Ausgangspunkt, um die Vorstellung einer humanen und demokratischen Gesellschaft in allen Bereichen des täglichen Lebens zu benennen.

Die Beteiligungsmöglichkeiten in den einzelnen Lebensbereichen müssen verstärkt, stärker genutzt bzw. wiederbelebt werden. Dazu müssen die entsprechenden Regelungen modernisiert und besser auf die Lebenswirklichkeiten abgestimmt werden. Die entsprechende Gestaltungsmacht und die Wirkung müssen erhöht werden. Dort, wo Beteiligung noch nicht vorgeschrieben, gewollt oder ermöglicht wird, müssen entsprechende Möglichkeiten oder Regelungen geschaffen werden. Hierbei sollen auch neuere Beteiligungsformen einbezogen werden.

Die Möglichkeit zur demokratischen Mitgestaltung der Gesellschaft ist nicht nur abhängig von der (strukturell gegebenen) Möglichkeit hierzu. Bildung ist die elementare Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Bildung ist dabei als Prozess zu verstehen, der auf eine Selbstverwirklichung des Menschen zielt und als Prozess der Emanzipation. So verstanden bewirkt Bildung die Stärkung der Analyse-, Urteils-, Kritik-, Handlungsfähigkeit junger Menschen und macht eine kritische Auseinandersetzung zu den entscheidenden Fragen möglich.

Bildungsmöglichkeiten und Partizipationsmöglichkeiten werden durch Armut erschwert. Eine wirkungsvolle Partizipation aller Kinder und Jugendlichen setzt eine armutsfeste soziale Absicherung voraus.

Zur Wahrnehmung und Gestaltung von Mitbestimmungsmöglichkeiten bedarf es auch gesellschaftlicher Freiräume. Ohne selbstbestimmte Zeit, den Freiraum und die notwendigen Ressourcen zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist eine gesellschaftliche Partizipation nicht möglich!

Unser Ideal einer lebendigen Demokratie

Innerhalb der im Deutschen Bundesjugendring (DBJR) zusammengeschlossenen Jugendverbände und Landesjugendringe werden die Mitglieder auf den verschiedenen Ebenen mit einer breiten Palette von Methoden an der innerverbandlichen Entscheidungsfindung beteiligt. Demokratie wird hier also tagtäglich auf einer Basis gelebt, die die Einzelnen unmittelbar in die Entscheidung einbezieht. Sie ist in den Jugendverbänden somit breiter angelegt und oft unmittelbarer als sie es auf gesamtstaatlicher Ebene sein kann. Darum sieht sich der DBJR dort, wo er sich im Interesse junger Menschen und in der Rolle und Funktion einer Organisation der Zivilgesellschaft in die innerstaatliche Entscheidungsfindung einbringt, als ein Akteur im repräsentativen demokratischen System, wie es im Grundgesetz angelegt ist. Zu diesem Selbstverständnis gehört auch die Unterstützung von außerparlamentarischen Bewegungen, die etablierte Politik kritisch begleiten und verändern wollen. Denn Protestbewegungen sind immer wieder Motor des sozialen und politischen Wandels.

Nachfolgend wird das repräsentative System so beschrieben, wie es aus unserer Sicht im Idealfall funktionieren sollte.

Funktionierende Demokratie

Eine funktionierende Demokratie zeichnet sich durch einen gesamtgesellschaftlichen Interessenausgleich aus. Der Grad des Zuganges zur gesamtgesellschaftlichen Willensbildung darf nicht davon abhängen, über welche materiellen, sozialen und kulturellen Möglichkeiten die einzelnen Teile oder Mitglieder der Gesellschaft verfügen. Dem demokratischen System mit seinen Entscheidungsprozessen müssen alle politischen Entscheidungen unterworfen sein. Die Entscheidungsfindung muss ein für alle Teile der Gesellschaft nachvollziehbarer, transparenter Prozess sein, der allen ein Höchstmaß an Beteiligung ermöglicht – sei es als Mitentscheider/-in oder über die Wahl von Repräsentanten/-innen. Besonders relevanten politischen Entscheidungen muss ein breiter Diskurs vorausgehen.

Notwendige Voraussetzung für eine derart funktionierende Willensbildung der Gesamtgesellschaft sind vielfältige, für alle zugängliche und nicht entziehbare Möglichkeiten der Artikulation und Vertretung der eigenen Meinungen und Interessen. Die Spannbreite reicht dabei von mehr oder weniger formalisierten, strukturierten Wegen – wie Mitgliedschaft in Parteien oder Organisationen der Zivilgesellschaft, Anhörungen, Volksbegehren, aber auch Petitionen – bis hin zu individuell geprägten, spontanen Möglichkeiten wie Demonstrationen oder Bürgerbewegungen. Die Basis dafür legt das Grundgesetz mit dem Festschreiben der Glaubens-, Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Artikel 4, 5, 8 und 9 Grundgesetz) sowie des Petitionsrechtes (Artikel 17 Grundgesetz) und des Rechtes auf Freizügigkeit (Artikel 11 Grundgesetz).

Eine funktionierende Demokratie ist darauf angewiesen, dass die Möglichkeiten zur Beteiligung und Mitbestimmung  für alle Teile der Gesellschaft attraktiv sind und somit zur Nutzung motivieren.  Diese Möglichkeiten reichen von Transparenz und ggf. altersgerechten Aufbereitung der notwendigen relevanten Informationen über den Austausch, die Meinungsbildung und über die  Interessenbekundung bis hin zur Mitentscheidung und Mitwirkung. Dafür müssen die Beteiligungsmöglichkeiten vor allem relevant und wirkungsvoll sein. Der Grad der Wirksamkeit muss dabei dem einzusetzenden Aufwand entsprechen. Grenzen der Beteiligung und Kernbereich repräsentativer Organe sind transparent zu machen. Welche Voraussetzungen eine attraktive und wirkungsvolle Beteiligung junger Menschen hat, hat der DBJR in mehreren Papieren dargelegt.[1] Gleichzeitig braucht eine funktionierende Demokratie für die Umsetzung von Entscheidungen eine verlässliche Ordnung, die privates und staatliches Handeln an die partizipativ getroffenen Entscheidungen bindet (Artikel 20, Absatz 3 Grundgesetz).

Eine funktionierende demokratische Ordnung bedarf schließlich des Schutzes durch die Gesellschaft vor Gefahren, ob sie nun von einzelnen undemokratischen Gruppen (z. B. rechtsextremistischen Organisationen) oder dem Staat selbst ausgehen (z. B. Einschränkung von Rechten, tatsächliche oder formale Verlagerung von Entscheidungsgewalt in die Exekutive oder in informelle Entscheidungsrunden außerhalb der grundgesetzlichen Ordnung wie z. B. Experten/-innen-Kommissionen, Koalitionsrunden etc.).

Organisation des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses

Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes – „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ – beschreibt, wie in Deutschland (Entscheidungs-)Macht organisiert wird. Dieses System lebt von der Delegation von Macht in Form von Entscheidungsmacht an Repräsentanten/-innen und deren (Ein-)bindung in die Willensbildungsprozesse breiter Bevölkerungsschichten. Die (gewählten) Entscheidungsträger/-innen und das sie umgebende politische System insgesamt haben die Funktion des Ausgleichs zwischen partikularen Interessen und der Wahrung des Gesamtinteresses. Diesem System der demokratischen Entscheidungsfindung sind alle Entscheidungen zuzuführen. Sie dürfen nicht in exekutive Organe verlagert oder gar durch kommerzielle Strukturen oder Organisationen (z. B. internationale Großkonzerne, Finanzmarkt etc.) übernommen werden.

Grundlage des Funktionierens dieses Systems ist die Vermittlung zwischen allen Teilen der Gesellschaft auf der einen und den Entscheidungsträgern/-innen auf der anderen Seite. Dabei ist es im Sinne einer oben eingeforderten Transparenz einerseits unabdingbar, Stimmungen, Meinungen und Interessen zu beobachten, aufzugreifen sowie zu verarbeiten, andererseits müssen Positionen, Beschlüsse und letztendlich Entscheidungen erklärt und vertreten werden. Diese doppelte Vermittlungsfunktion ist eine zentrale Aufgabe der Abgeordneten und der Parteien. Ihre Basis erkennt Stimmungen, nimmt Meinungen wahr und wird mit den Interessen der einzelnen Teile und Mitglieder der Gesellschaft konfrontiert. In den Gesprächen, Diskussionen, aber auch in der Gremienarbeit sollte darüber hinaus durch das Vertreten der Positionen und Sichtweisen der Partei und damit ein Einwirken auf das jeweilige Gegenüber eine Aussage über die Festigkeit seiner/ihrer Meinung, Position und die individuelle Wichtigkeit des artikulierten Interesses gewonnen werden. Diese „Dopplung von Beobachtung und Beeinflussung“ [2] kann dazu beitragen, dass „der potenzielle Einwand nicht zum manifesten Widerstand wird“[3] .

Dazu müssen die mit (Entscheidungs-)Macht ausgestatteten Repräsentanten/-innen der Legislative und die Entscheidungsträger/-innen der Exekutive mit der (Partei-)Basis zwingend verzahnt sein; idealerweise auf Grundlage des Wertekanons der jeweiligen Partei und ihrer Grundlagenbeschlüsse. Gleichzeitig ist eine Verzahnung mit den Organisationen und Gruppen der Zivilgesellschaft – im engeren Sinne: von Großorganisationen wie Gewerkschaften und Kirchen, Jugendverbänden bis hin zu Protestbewegungen –  notwendig. Dies sollte durch personelle Verzahnungen (z. B. Doppelmitgliedschaften der Repräsentanten/-innen und Entscheidungsträger/-innen in Partei und Zivilgesellschaft), strukturelle Verzahnung (z. B. Einbindung von Organisation in die Arbeitsformen von Parteien und Gremien) und durch die Organisation von Meinungsaustausch geschehen.

Eine wichtige Rolle im demokratischen Prozess kommt auch den Medien zu, die einerseits das politische Geschäft kritisch begleiten und andererseits ein Forum für den gesamtgesellschaftlichen Austausch über relevante Themen bieten sollten. In diesem Sinne ist es Aufgabe der Medien, die Themen aufzuspüren, die für den gesellschaftlichen Diskurs von Bedeutung sind und diese auf die Agenda setzen, und Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dabei tragen die Medien mehr bei, als nur das Abbild der Prozesse darzustellen, denn sie sind ebenso wie Politik und Zivilgesellschaft Akteure, die aktiv zum Willensbildungsprozess beitragen, vor allem dadurch, dass die Medien zwischen und innerhalb von Politik und Zivilgesellschaft Argumente füreinander sichtbar machen, zur Verarbeitung beitragen und am Ende die öffentliche Meinung transportieren.

Die zivilgesellschaftlichen Organisationen – wie die Jugendverbände - sind Teil der Gesellschaft und haben die Pflicht, an ihrer Gestaltung mitzuwirken. Im (politischen) System der Entscheidungsfindung haben sie die Aufgabe des Impulsgebers und des Korrektivs; letzteres auch bereits im Vorfeld von Entscheidungen der Legislative z. B. im Rahmen der innerparteilichen Wege der Beschlussfindung – und nicht in einer Beschränkung auf die Kritik an getroffenen Entscheidungen der Legislative.

Beteiligung gibt es jedoch nicht nur in verfassten Strukturen wie Parteien oder zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sie muss als grundsätzliches Prinzip in allen Lebensbereichen, z. B. Schule, Arbeitswelt, kommunalem Zusammenleben, Jugendhilfe etc. auf allen politischen Ebenen von den Gemeinden über die Länder und den Bund bis zur übernationalen Ebene möglich sein. Dazu gibt es in einigen Bereichen rechtlich festgeschriebene Strukturen oder Prozesse, z. B. betriebliche Mitbestimmung, Schüler/-innenvertretung, kommunale Mitbestimmung etc. In anderen Bereichen wie z. B. der Jugendhilfe ist sie als Anforderung normativ festgeschrieben.

Organisationen der Zivilgesellschaft – Orte der Demokratie

Um diese Rolle(n) und Aufgaben wahrnehmen zu können, müssen die Organisationen der Zivilgesellschaft in ihrer Gesamtheit die Heterogenität der Zivilgesellschaft abbilden. Alle Teile und Mitglieder unserer Gesellschaft müssen die Möglichkeit haben, mit ihren Meinungen und Interessen an entsprechende Organisationen der Zivilgesellschaft anzudocken. Dazu gehört es auch, dass gesellschaftliche Entwicklungen sowohl thematisch als auch methodisch-organisatorisch aufgegriffen werden – ein ständiger Anpassungsprozess im Rahmen des jeweiligen Wertekanons muss die Folge sein. Sowohl Parteien als auch zivilgesellschaftliche Organisationen haben die Pflicht, in ihren Meinungsfindungs- und Entscheidungsprozessen nach innen wie außen ausreichend transparent und verlässlich zu sein. Dazu gehört neben der Einhaltung demokratischer Regeln innerhalb der Parteien und Organisationen auch eine enge Orientierung von Positionierungen und Entscheidungen an den Wertegrundlagen und am Kanon von Grundlagenbeschlüssen. Im Falle der Parteien müssen der Kanon der Grundlagenbeschlüsse und die Wertgrundlage auch Basis für das Agieren ihrer Repräsentanten/-innen in der Legislative sein.

Jugendverbände sind Teil der Zivilgesellschaft sowie Interessenvertretung junger Menschen und damit in der Pflicht zur Mitwirkung an der gesamtgesellschaftlichen Willensbildung im Sinne der Gestaltung der Lebensverhältnisse der jungen Generation. Vor allem zu diesem Zweck haben sie sich Jugendringe als Plattformen der Zusammenarbeit geschaffen. Die Zusammenarbeit und politische Auseinandersetzung mit den Parlamenten und der Exekutive gehören zu den Kernaufgaben der Gesamtheit der Jugendverbände. Sie nutzen die sich bietenden Gelegenheiten zum Dialog mit Parteien und Mandatsträger/-innen und fordern sie ein. Sie sind auch Werkstätten der Demokratie und ermöglichen es jungen Menschen, praktische Erfahrungen in einem demokratischen System zu sammeln und Impulse für die Weiterentwicklung ihrer Lebenswelt zu setzen. Gleichzeitig können sie auf Basis der ständig neuen Erfahrung Impulsgeber für die Gesamtheit der Zivilgesellschaft sein.

Gelebte Demokratie in Deutschland aus Sicht des DBJR

Im Rahmen seiner zivilgesellschaftlichen Interessenvertretung junger Menschen erlebt und beobachtet der DBJR sich verfestigende Abweichungen vom grundgesetzlichen Ideal.

Das demokratische System in Deutschland

Das „Vertrauen in die dafür verantwortlichen Institutionen, Vertrauen in die Legitimation, in die Kompetenz und in die Integrität der politischen Akteure“[4], das Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert als Voraussetzung für die Bewältigung der großen Herausforderungen, vor denen unser Land steht, benannt hat, ist nicht mehr im notwendigen Maße vorhanden. Diesem zurückgehenden Vertrauen folgen Desinteresse, mangelnde Akzeptanz von Entscheidungen und sinkendes Engagement.

Besonders die Akzeptanz der repräsentativen Formen der Beteiligung ist gering, ein Bezug zur eigenen Lebenswelt wird oft nicht wahrgenommen. Zudem ist es immer schwieriger, das Agieren der Repräsentanten/-innen mit dem Kanon an Grundsatzbeschlüssen und den proklamierten Grundwerten ihrer jeweiligen Parteien in Verbindung zu bringen. Allein in den letzten drei Legislaturperioden haben alle großen Parteien Entscheidungen getroffen, die in erheblichem Maße von ihren Parteiprogrammen bzw. Wahlkampfaussagen abwichen, teilweise bis hin zum absoluten Gegenteil. Dies kann von den Wählern/-innen nur als Täuschung und Verkehrung ihres in der Wahl zum Ausdruck gebrachten politischen Willens erlebt werden, auf die notwendigerweise ein Vertrauensentzug folgen muss. Junge Menschen bis zur Erreichung des jeweiligen gesetzlichen Wahlalters sind außerdem von der Beteiligung am repräsentativen System ganz ausgeschlossen.

Zunehmend werden wesentliche Entscheidungen getroffen oder fallweise auch unterlassen (z. B. zu SGB-II, zu Europa oder zu einer Wahlrechtsreform), die Gefahr laufen, vom Grundgesetz als Basis dieses gesellschaftlichen Systems nicht mehr vollumfänglich gedeckt zu sein. Damit ist das Grundgesetz als gesamtgesellschaftliche konsensuale Grundlage für das politische Handeln faktisch infrage gestellt. Zudem wird dadurch ein Agieren der Judikative als Ersatzgesetzgeberin geradezu erzwungen, obwohl es ebenfalls in der Anlage des Grundgesetzes nicht vorgesehen ist.

Die jeweiligen, beide Gewalten tragenden Parteien verwischen zunehmend die Grenzen zwischen Exekutive und Legislative. Die Entscheidungen der Exekutive und vor allem der Legislative verlieren dadurch an Transparenz. Für die Gesamtgesellschaft ist immer weniger wahrnehmbar, bei wem die Verantwortung für die jeweiligen Entscheidungen liegt. Dazu trägt auch eine zunehmend unsaubere Berichterstattung bei, die z. B. den Eindruck erweckt, Gesetze würden vom Bundeskabinett beschlossen.

Die zeitliche Abfolge von Entscheidungen beschleunigt sich. Die Zeiträume, die für Beratung und möglichst breiten Diskurs zur Verfügung stehen, werden kürzer. Gleichzeitig werden die Entscheidungsgegenstände komplexer, was zu einem steigenden Bedarf an Vermittlung und Transfer führt, der durch die Beschleunigung der Abfolge nicht (mehr) erfüllt werden kann. Entscheidungen sind oft wenig nachhaltig und/oder werden oft nach kurzer Zeit verändert. Beides führt dazu, dass breite Teile der Gesellschaft weder die Möglichkeit noch eine Motivation haben, sich in Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse einzubringen.

Gleichzeitig leisten die steigenden Anforderungen an die politischen Entscheidungsträger/-innen der Professionalisierung der Politik Vorschub.

Zurückgehende Wahlbeteiligung, Verschiebung der Macht von der Legislative zu Organen der Judikative und der Exekutive und die Nichtdurchsetzbarkeit demokratisch getroffener Entscheidungen in einzelnen Fällen entwerten den Wahlakt.

Willensbildung und Entscheidungsfindung

Die Verankerung der Parteien in der Zivilgesellschaft geht zurück. Mitgliederzahlen sowie die organisatorische und strukturelle Verzahnung mit zivilgesellschaftlichen Organisationen nehmen ab. Die etablierten Parteien bilden in ihren Strukturen die Heterogenität der Zivilgesellschaft nicht mehr vollumfänglich ab.

Zwischen den politischen Entscheidungsträgern/-innen und der Parteibasis und erst recht dem Rest der Gesellschaft kommt es zur Entfremdung. Den Entscheidungsfindungsprozessen der Parteien und den Entscheidungen ihrer Repräsentanten/-innen in der Legislative und der Exekutive fehlt die notwendige Transparenz. Eine Bindung an grundsätzliche Wertepositionen und Grundsatzentscheidungen ist nicht mehr immer gegeben, ebenso wenig die Bindung der Entscheidungsträger/-innen an die demokratische Kontrolle in den Parteien. Dies wird von außerhalb der Parteien als Aufgabe innerparteilicher Demokratie zugunsten einer autoritären Entscheidungsfindung von oben nach unten wahrgenommen und führt zu einem weiteren Vertrauensverlust sowie aus Sicht großer Teile der Gesellschaft zur Unwählbarkeit. Transparenz, Berechenbarkeit, innerparteiliche Demokratie und Orientierung an Grundaussagen sind grundlegende Voraussetzung für Vertrauen und Wählbarkeit.

Auch die zunehmende Abhängigkeit politischer Entscheidungen von der Einbindung in größere Systeme wie z. B. der Europäischen Union reduziert die Transparenz von Entscheidungen. Der Ort der tatsächlichen Entscheidung ist nicht mehr wahrnehmbar. Damit sind auch die für die Entscheidung Verantwortlichen nicht mehr zu erkennen. Zivilgesellschaft kann aber nur an Entscheidungen mitwirken, wenn sie weiß, wo sie aktiv werden muss und wer ihre Ansprechpartner/-innen sind. Dies ist nicht gegeben, wenn außerhalb des demokratischen Systems auf einer der Zivilgesellschaft schwerer zugänglichen Ebene wie z. B. in der EU oder in informellen Entscheidungsrunden Beschlüsse getroffen werden. In besonderem Maße wird gegen demokratische Grundprinzipien verstoßen, wenn dem Druck einzelner, meist wirtschaftlicher Akteure wie z. B. Ratingagenturen in einer Weise nachgegeben wird, dass die Entscheidungen faktisch außerhalb der vorgesehenen politischen Strukturen getroffen werden. Unter solchen Voraussetzungen kann sich Kritik an Entscheidungen nur gegen ein abstraktes, vom eigenen Handeln losgelöstes und unbeeinflussbares Etwas richten, statt gegen ein konkretes Gegenüber, z. B. ein Gremium der Legislative. Diese übergeordneten Strukturen binden die nationalen Gewalten zudem in einer Art ein, dass der nationale Wahlakt in vielen Feldern an Bedeutung verliert, weil sie der Gestaltung durch die nationale Legislative gar nicht mehr offen stehen. Umso kritischer ist zu sehen, dass Entscheidungskompetenzen in den meisten Fällen ohne politischen Diskurs über die Art, die Gründe, die Vor- und Nachteile und den Zielort der Verlagerungen vorgenommen werden.

Als ein weiterer Mangel in der politischen Praxis der Bundesrepublik wird gesehen, dass konkrete Entscheidungen mit sichtbaren Konsequenzen für zumindest Teile der Gesellschaft oft nicht im Rahmen der Arbeit der Legislative, sondern durch die Exekutive bei der Umsetzung der Gesetze getroffen werden.

Damit stehen sie i.d.R. nicht für eine Beteiligung der Gesellschaft zur Verfügung. Eine Kontrolle, ob diese „Umsetzungsentscheidungen“ dem erklärten, das heißt z. B. im Gesetzesbeschluss niedergeschriebenen Willen der Legislative entsprechen, gibt es meist nicht. Vielmehr wird bei Protesten die Verantwortung zwischen Legislative und Exekutive und meist zusätzlich zwischen den föderalen Ebenen – und darüber hinaus – hin und her geschoben. Am Ende wird immer öfter die Judikative als Schlichterin zwischen den anderen beiden Instanzen angerufen, die zwar verfassungsrechtliche Grenzen aufzeigen, aber keine gesellschaftliche Entscheidungsfindung ersetzen kann.

Der Aufwand, der für die Beteiligung am Willensbildungsprozess für die Einzelne und den Einzelnen, aber auch für die Organisationen der Zivilgesellschaft erbracht werden muss, steigt (u. a. durch komplexere Beteiligungsformen, kompliziertere Inhalte, kurze Fristen etc.) bei gleichzeitig abnehmender Wahrnehmung durch die legitimierten Entscheidungsträger/-innen und sinkendem Einfluss auf die Entscheidungsfindung.

Demgegenüber steigen die Auswirkungen der medialen Berichterstattung. Der Wert der Beteiligung der/des Einzelnen und der Organisationen der Zivilgesellschaft steht in keinem Verhältnis zur medialen Berichterstattung und ihrer Konsequenzen. Nicht die Zivilgesellschaft (im engeren Sinne) setzt Themen und erzeugt Aufmerksamkeiten, sondern die Medien. Nicht selten wird in (fach)politischen Gesprächen mit dem durch die Medien transportierten angeblichen und sogenannten Stimmungsbild der Gesellschaft argumentiert. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die deutsche Medienlandschaft enorm verändert, was nicht ohne Folgen auf der Seite der Qualität geblieben ist. Hoher Wettbewerbsdruck, die Abhängigkeit von Werbung bis hin zum Druck, hohe Renditen erzielen zu müssen, führen nachweislich zur vermeintlichen Marktorientierung mit Sensationalisierung, Skandalisierung und Trivialisierung in weiten Teilen des Medienangebots. Es ist besonders dem privaten Rundfunk und der Boulevardpresse anzulasten, dass eben nicht die gesellschaftlich relevanten Themen Aufmerksamkeit erlangen, sondern Ablenkung erzeugt wird. Insbesondere das Bild junger Menschen leidet unter diesen Entwicklungen, denn vielfach führt die oft einseitige Darstellung insbesondere innerhalb der Reality-Unterhaltung zu falschen politischen Forderungen.

Themensetzung und das Erzeugen von Aufmerksamkeiten verlagert sich nicht nur zu den Medien, sondern erfolgt zunehmend durch Akteure, die im Interesse kommerzieller Unternehmen die öffentliche Wahrnehmung und in Folge Wahlentscheidungen formen. Die Akteure, zu denen bestimmte (operativ tätige) Stiftungen, Think-Tanks und Initiativen[5] gehören, verändern heute die politischen Entscheidungen in einem weit stärkeren Maße, als es die Zivilgesellschaft zu tun vermag; ohne dass auch sie selbst an demokratische Prozesse gebunden sind. Dies geschieht zum einen durch Beeinflussung der Medien (s. o.) und zum anderen durch die Beeinflussung von Multiplikatoren/-innen in Politik und Verwaltung. Diese Organisationen, die klar spezielle (kommerzielle) Interessengruppen vertreten, werden zunehmend – vor allem durch die Exekutive – als zivilgesellschaftliche Organisation und gleichberechtigt zu großen Organisationen der Zivilgesellschaft (z. B. Jugendverbände, Gewerkschaften, Kirchen) betrachtet.

Die Zunahme von Bürger/-innen- und Protestbewegungen zeigt, dass die Interessenvertretung im Rahmen des etablierten Systems als nicht mehr ausreichend wirkungsvoll bewertet wird. Beteiligungsmöglichkeiten außerhalb verfasster Strukturen in allen Lebensbereichen sind trotz entsprechender Regelungen nicht oder nicht ausreichend gewährleistet. Oft sind Möglichkeiten beschränkt und die Mitwirkung bleibt ohne Konsequenz.

Organisationen der Zivilgesellschaft

Wie die Parteien vermögen auch viele Großorganisationen der Zivilgesellschaft nicht mehr so viele Menschen in Form einer Mitgliedschaft an sich zu binden wie früher. In ihrer Gesamtheit bildeten die zivilgesellschaftlichen Organisationen die volle Heterogenität der Gesellschaft ab. Diese Fähigkeit lässt jedoch nach, sodass zunehmende Teile der Bevölkerung weder in den Parteien noch in zivilgesellschaftlichen Großorganisationen repräsentiert sind. Parallel dazu verlagern jedoch viele Menschen aus dem (politisch) aktiven Teil der Gesellschaft ihr Engagement von den Parteien hin zu Organisationen der Zivilgesellschaft. Oft ist das Ziel dieser Verlagerung jedoch nicht eine der bestehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen. Stattdessen wird es häufig in neu entstehenden, monothematischen Initiativen, deren Ziele und Zwecke an kurzfristige, individuelle Interessen einzelner Menschen andocken, verlagert. Diese Initiativen sind zudem meist in ihrer Existenz befristet.

Nicht mehr alle zivilgesellschaftlichen Organisationen sehen sich in ihrem Selbstverständnis als Werkzeug der Willensbildung und Interessenvertretung weiter Teile der Gesellschaft. Die personelle Vernetzung mit den Parteien geht zurück. Die Offenheit der Parteien für Akteure und ihr Bezug zu Akteuren aus der Zivilgesellschaft sind in letzter Zeit deutlich gesunken.

Bei vielen größeren Organisationen gibt es schon länger einen Prozess der Professionalisierung, durch den es zur Trennung von Basis und Verbandsvertretern/-innen sowie von Ehrenamtlichen und Hauptberuflichen kommt. Bei einigen großen Organisationen führte dies zur Verwandlung von sozialen Bewegungen oder Einrichtungen in „Wohlfahrtskonzerne“ oder „Gemeinwohlunternehmer“[6]. Die thematische Ausrichtung orientiert sich vermehrt an der zu erwartenden, auch medialen Aufmerksamkeit bzw. an weiteren möglichen Tätigkeitsfeldern für diese Organisationen. Dies geht mit einer Abnahme der Transparenz der inneren Entscheidungsfindungsprozesse einher. Auch dies führt dazu, dass Teile der Bevölkerung sich in ihnen nicht (mehr) wiederfinden.

Den notwendigen Wandel – die Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen bei Beibehaltung des eigenen Wertekontextes – gibt es in den zivilgesellschaftlichen Organisationen oft nicht mehr oder nur in zu geringem Maße.

Auch in den Jugendverbänden und ihren Zusammenschlüssen, den Jugendringen, haben Prozesse der Professionalisierung und der Verbetrieblichung stattgefunden. Das Selbstverständnis als Selbstorganisationen junger Menschen zusammen mit dem Primat des Ehrenamtes sowie die besondere Bedeutung einer demokratischen Gesellschaft für die Jugendverbände geben immer wieder Anlass zu kritischen Reflexionen über diese Prozesse. Sie führen dazu, dass eine „Entfremdung“ zwischen Basis und Verbandsvertretern/-innen sowie von Ehrenamtlichen und Hauptberuflichen nicht überhandnimmt. Der nach wie vor kleine Anteil an hauptberuflichen Mitarbeitenden und der noch kleinere Anteil an mandatierten und damit hauptamtlichen Mandatsträgern/-innen ist nicht nur ein Ausdruck begrenzter Ressourcen, sondern in vielen Fällen auch bewusster Entscheidungen. Nichtsdestotrotz besteht auch für Jugendverbände die Gefahr, sich etwa durch eine zu weit getriebene Professionalisierung von ihren im Selbstbild maßgeblichen Grundsätzen zu entfernen und damit auch die Basis zu verlieren. Diese Herausforderungen müssen und werden die Jugendverbände annehmen und sich u. a. Fragen zu innerverbandlichen Beteiligungs- und Mitwirkungsprozessen immer wieder neu stellen.

Als Zusammenschlüsse und Interessenvertretung junger Menschen sind Jugendverbände einem ständigen Wandel und einer ständigen Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen unterworfen, denen sie sich offensiv stellen. Dies sind vor allem die sich verändernde Zusammensetzung der Mitgliedschaft, die Bildung und Einbeziehung neuer Jugendverbände (z. B. Migranten/-innen-Jugendselbstorganisationen) und die Veränderungen der Themen, mit denen sie ihre Mitgliedschaft erreichen können. Daran hat sich seit der Erklärung von St. Martin von 1962 und der Schlusserklärung der 35. Vollversammlung des DBJR (November 1968) zum Thema „Das Selbstverständnis des Deutschen Bundesjugendringes und seiner Mitgliedsorganisationen" nichts geändert. In letzterer heißt es: „In immer kürzeren Abständen vollziehen sich in der Jugendarbeit ebenso wie in vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft erhebliche Veränderungen. Die Jugendverbände bejahen entschieden die Notwendigkeit von permanenten Veränderungen und sehen darin eine entscheidende Voraussetzung zur Sicherung unserer Zukunft in einer demokratischen Gesellschaft. Dem dient nicht die unkritische Anpassung junger Menschen an die bestehende Gesellschaft. Die Jugendverbände beziehen selbst gesellschaftskritische Positionen. Dabei solidarisieren sie sich mit den Kräften in unserem Lande, die mit adäquaten Mitteln für Demokratisierung und Mitbestimmung in allen Bereichen eintreten.“

Diese Interessenvertretung und Mitwirkung an der Willensbildung auf Basis der jeweiligen Werte und demokratisch gefassten Beschlüsse werden in Legislative und Exekutive des Staates nicht immer vorbehaltlos unterstützt. Traditionell hat die Exekutive das Bestreben, die Arbeit der Jugendverbände zu steuern und zu beeinflussen. Dies wird insbesondere durch kurzfristige und an konkrete Themen und Aufgabenstellungen gebundenen Förderstrukturen (Projektförderung) deutlich.

In den inzwischen üblichen Forderungen nach Einbeziehung von sogenannten echten oder sogenannten unorganisierten Kindern und Jugendlichen kommt eine implizite Abwertung der die Jugendverbände ausmachenden, repräsentativen Interessenvertretung zum Ausdruck. Das sehen die Jugendverbände als mangelnden Respekt vor ihrer demokratischen Verfasstheit und Legitimation an und weisen es entsprechend zurück!

Anforderungen an unsere Demokratie

Die Demokratie muss am Anspruch festhalten, die optimale Partizipation aller im umfassenden Sinne zu gewährleisten. Ebenso wenig darf der Anspruch eines am nachhaltigen Gemeinwohl orientierten Interessenausgleichs aufgegeben werden. Auf die im letzten Abschnitt dargestellten Veränderungen und die sich daraus ergebenden Probleme muss reagiert werden, um existenzielle Gefährdungen unserer Demokratie zu verhindern. Dazu ist es aus Sicht des DBJR zuallererst notwendig, Informationen (altersgerecht) zur Verfügung zu stellen, sich über diese in einem breiten Diskurs auszutauschen und politische Entscheidungen transparent und nachhaltig zu treffen.

Politik muss ein vitales Interesse daran zeigen, dass sich die Zivilgesellschaft mit aller Kraft in die Entscheidungs- und Willensbildung einbringt. Dies muss Politik ermöglichen und fördern.

  • Oberstes Ziel muss immer sein, möglichst alle Menschen zu beteiligen. Entsprechend müssen geeignete wirkungsvolle Formen geschaffen oder genutzt werden, die weit über den bloßen Wahlakt hinausgehen (z. B. Volksbegehren und -abstimmungen, Bürger/-innen-Haushalte, Agenda21-Prozesse, die sonstigen z. B. in den Kommunalordnung festgeschriebenen Einwohner/-innen-Beteiligungsverfahren).
  • Gleichzeitig müssen die derzeitigen Regelungen, die junge Menschen von der Nutzung formal organisierter Beteiligungsformen (Wahlen, Plebiszite, Mitwirkung in z. B. Kommunalgremien) abhalten, überprüft und gelockert werden. Dies heißt konkret, die Senkung des Wahlalters für alle Wahlen. Auch muss der Zugang zum Wahlakt wie auch zu allen anderen Formen der Beteiligung möglichst allen Menschen ermöglicht werden, neben den Einschränkungen aufgrund von Alter sind auch solche aufgrund des Aufenthaltsstatus weitgehend abzuschaffen.
  • Dabei muss Politik im Sinne eines Interessenausgleichs durch gezielte Förderung und Unterstützung sicherstellen, dass die zivilgesellschaftliche Organisation und Interessenvertretung nicht von den individuellen oder im jeweiligen Teil der Gesellschaft vorhandenen Ressourcen abhängig ist.
  • Verantwortlichkeiten und Entscheidungen müssen wieder deutlich erkennbar verortet werden. Die politischen Entscheidungszuständigkeiten müssen klar der Legislative oder der Exekutive sowie der jeweiligen föderalen Ebene bzw. der EU zugeordnet sein. Die Zuordnungen müssen sinnhaft nachvollziehbar sein. Die derzeitigen Zuordnungen sind unter dieser Prämisse zu prüfen und gegebenenfalls entsprechend zu verändern.
  • Entscheidungsprozesse müssen entschleunigt werden. Informationen zur Auseinandersetzung müssen rechtzeitig vorliegen und einfach zugänglich sein. Es müssen ausreichende Zeiträume für einen breiten Diskurs geschaffen und dieser auch geführt werden. So sollte der Deutsche Bundestag bei der Frist- und Terminsetzung darauf achten, dass es seinen Mitgliedern und den Ausschüssen möglich ist, ausreichend mit der Zivilgesellschaft in Diskurs zu gehen und ihre Expertise einzuholen. Dazu gehört z. B. weitgehend auf Fristverkürzung bzw. die Einstufung als eilbedürftig zu verzichten.
  • Zur Transparenz demokratischer Verfahren und Entscheidungen gehört auch, dass alle Akteure den von ihnen vertretenen Interessen zuordenbar sind. Es ist darum notwendig, dass Verflechtungen einzelner Personen mit entsprechenden Interessenorganisationen offengelegt werden. Das betrifft z. B. Nebentätigkeiten von Abgeordneten genauso wie die von Experten/-innen. Außerdem müssen die Möglichkeiten zur Akteneinsicht für Bürger/-innen in Regierung und Verwaltung deutlich verbessert werden.
  • Der Zugang zu demokratischer Partizipation muss unter Rahmenbedingungen und einem Klima möglich sein,  das freie Äußerungen und Entscheidungen ohne Angst vor negativen Folgen nicht nur ermöglicht, sondern garantiert.

Die Parteien müssen ihre Aufgabe als Transmissionsriemen zwischen Politik und Gesellschaft ernst nehmen und verstärken.

  • Dazu ist eine breite Verschränkung und Verwurzelung der Parteien in der Zivilgesellschaft nötig, genauso wie wirkungsvolle innerparteiliche Demokratie, in der möglichst alle Entscheidungen von der Basis mitbestimmt werden.
  • Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen als Partner/-innen und legitime Interessenvertretung wahrgenommen werden. Eine Abwertung dieser Interessenvertretung durch Gleichsetzung mit dem Lobbyismus kommerzieller Unternehmen darf es aus unserer Sicht nicht geben.
  • Die Vernetzung von Parteien und Zivilgesellschaft muss wiederhergestellt werden. Dafür ist die Öffnung von Parteien und Mandaten für die Zivilgesellschaft erforderlich.
  • Bürgerinitiativen und Protestbewegungen müssen ernst genommen und frühzeitig eingebunden werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass sie i.d.R. jeweils legitime Vertreter/-innen von Einzelinteressen sind, die von ihnen artikulierten Interessen jedoch in Hinblick auf die Gemeinwohlorientierung der Entscheidung mit allen anderen Einzelinteressen in Ausgleich gebracht werden müssen. Wo dieser Ausgleich wegen zu großer Interessengegensätze nicht gelingt, belebt der gewaltfreie Umgang mit Konflikten die Demokratie und sorgt für gesellschaftlichen Fortschritt.

Es ist notwendig, dass sich möglichst viele Menschen beteiligen. Sie müssen sich in Organisationen, Initiativen, Bewegungen etc. zusammenschließen können. Schließlich muss sich die demokratische Praxis wieder enger am Grundgesetz orientieren.

  • Die Gesamtheit der zivilgesellschaftlichen Organisationen muss wieder den größten Teil der Gesellschaft abbilden und legitimiert vertreten. Dazu müssen sich neue Organisationen und neue Formen bilden, ihre Bildung muss zugelassen, angeregt und aktiv unterstützt werden. Die bestehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen müssen ständige Veränderungen zulassen und bewusst einleiten. Sie müssen sich regelmäßig so weiter entwickeln, dass Mitarbeit in ihnen für weite Teile der Bevölkerung attraktiv wird bzw. bleibt.
  • Die Organisationsformen der Zivilgesellschaft müssen ihre Rolle erkennen und sich als Teil der Gesellschaft und als deren Gestaltende begreifen.
  • Die organisatorische, personelle und strukturelle Verzahnung mit Parteien und weiteren Akteuren, sowie den Institutionen im politischen Bereich muss aktiv und selbstbewusst eingefordert werden.
  • Die zivilgesellschaftlichen Organisationen müssen ständig Veränderungen zulassen und bewusst einleiten. Sie müssen neue Möglichkeiten prüfen, breiten Teilen der Bevölkerung Zugang zu bieten. Neue Organisationen und neue Formen müssen zugelassen und aktiv unterstützt werden.
  • Der Umgestaltung von zivilgesellschaftlichen Organisationen zu quasi-kommerziellen Konzernen muss im Interesse einer partizipativen Mitwirkung eine Absage erteilt werden.
  • Die Beteiligungsmöglichkeiten in den einzelnen Lebensbereichen müssen verstärkt, stärker genutzt bzw. wiederbelebt werden. Dazu müssen die entsprechenden Regelungen modernisiert und besser auf Lebenswirklichkeiten abgestimmt werden. Die entsprechende Gestaltungsmacht und Wirkung muss erhöht werden. Dort, wo Beteiligung noch nicht vorgeschrieben, gewollt oder ermöglicht wird, müssen entsprechende Möglichkeiten oder Regelungen geschaffen werden. Hierbei sollen auch neuere Beteiligungsformen wie z. B. Instrumente der Onlinepartizipation (E-Partizipation) einbezogen werden.

Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse, die Jugendringe, haben als Teil der Gesellschaft die Rolle als Impulsgebende für die anstehenden Veränderungsprozesse. Sie sind erfahrene zivilgesellschaftliche Akteure, die sich aufgrund ihrer spezifischen Situation kontinuierlich verändern und weiterentwickeln, ohne dabei die jeweilige Wertebasis, die den freiwilligen und selbstorganisierten Zusammenschluss junger Menschen bewirkt, aus den Augen zu verlieren.

  • Jugendverbände müssen auch für die Kinder und Jugendlichen, denen der Zugang zu Jugendverbänden und ihren Entscheidungsprozessen bisher schwerfällt, Möglichkeiten schaffen, sich gleichberechtigt einzubringen.
  • Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse müssen selbstbewusst als Interessenvertretung junger Menschen auftreten und dabei ihre Legitimation, die das Ergebnis der Willensbildung eines repräsentativen demokratischen Prozesses ist, deutlich machen.
  • Die Zusammenschlüsse der Jugendverbände, die Jugendringe, müssen den Prozess der Öffnung für neue Verbände fortsetzen und diese in ihrer Entstehung und Struktursicherung unterstützen.
  • Die Jugendverbandsstruktur muss in der Fläche ihre politische Rolle der Interessenvertretung wieder stärker wahrnehmen und einfordern, z. B. in Form der Mitwirkung in Jugendhilfeausschüssen.
  • Jugendringe müssen in ihrem Selbstverständnis als Plattform der Zusammenarbeit und als wichtiges jugendpolitisches Instrument, wie es bereits in der Erklärung von St. Martin beschrieben wurde[7], gestärkt werden und diese Aufgaben von anderen Tätigkeiten abgrenzen. Jugendverbände müssen sich ihrer elementaren Werte und zentralen Definition als Vergemeinschaftung und Verfasstheit als selbstorganisierte Struktur junger Menschen bewusst sein und diese stärker nach außen vertreten.

Im Sinne der Stärkung der Demokratie fordert der Deutsche Bundesjugendring mit Blick auf eingangs aufgeführte Bürgerinitiativen und Proteste, dass sich die politischen Entscheidungsträger/-innen mit diesen Protestaktionen auseinandersetzen und aktiv den Dialog suchen. Außerdem gilt es, junge Menschen an politischen Prozessen zu beteiligen. Dies sollte verstärkt über die Jugendverbände geschehen. Hier wird Demokratie gelebt und Mitbestimmung gefördert.

Von der 84. Vollversammlung am 28./29. Oktober 2011 einstimmig in Ludwigshafen beschlossen.

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[1] siehe u.a.: Position Mitwirkung mit Wirkung (75. Vollversammlung 2002), Stellungnahme des DBJR zum Nationaler Aktionsplan.

Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010 (Vorstand, April 2005) u.a.

[2] Prof. Dr. H. Münkler: Aktive Bürgergesellschaft oder bürgerschaftliches Engagement? in Journal für die politische Bildung 1/2011.

[3] ebenda

[4] Rede von Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert bei der konstituierenden Sitzung des 16. Deutschen Bundestags.

[5] z. B. die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die von den Metall- und Elektroarbeitgeberverbänden finanziert wird, oder die Bertelsmann Stiftung

[6] Prof. Dr. H. Münkler: Aktive Bürgergesellschaft oder bürgerschaftliches Engagement? in Journal für die politische Bildung 1/2011, S. 18.

[7] „Die Jugendringe, die sich die Jugendverbände als Plattform der Zusammenarbeit geschaffen haben, sind bei der Bewältigung jugendpolitischer Aufgaben ein wichtiges Instrument.“ (Erklärung von St. Martin, 1962)

Themen: Demokratie