Armut

Jugendarmut als vernachlässigtes Problem im öffentlichen und sozialpolitischen Fachdiskurs

Professor Dr. Christoph Butterwegge beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Kinder- und Jugendarmut. Nach unserem Fachtag Jugendarmut im Jahr 2018 verfasste er den folgenden Beitrag für unsere Dokumentation:

„Armut“ war lange ein gesellschaftliches Tabuthema. Nach der Jahrtausendwende wurde es allerdings fast zu einem Topthema deutscher Massenmedien. Das geschah wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie nunmehr vor allem Kinder traf, die darunter im ungünstigsten Fall ein ganzes Leben lang leiden. Denn im Unterschied zu Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen haben Kinder noch keine geeigneten Bewältigungsstrategien entwickelt. Und sie sind seltener in der Lage, ihre Situation zu reflektieren. Außerdem kann man sie kaum für ihre missliche Lage verantwortlich machen und ihnen schwerlich Leistungsmissbrauch vorwerfen. Deshalb wurde ihnen gegenüber auch kein „aktivierender Sozialstaat“ bemüht, weder „Fördern und Fordern“ propagiert noch an die Eigenverantwortung appelliert. Eigentlich hätte die Verantwortung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft an der Verarmung zahlreicher Familien im öffentlichen Diskurs umso klarer zutage treten können, zumal Kinderarmut, wenn man so will, die sozialmoralische Achillesferse des Finanzmarktkapitalismus ist: Selbst solche Kommentator*innen, denen die Unterversorgung von „Faulen“ und „weniger Leistungsfähigen“ mit lebensnotwendigen Gütern als normal erscheint, halten die Kinderarmut für einen gesellschaftspolitischen Skandal.

Armutsdiskurse und Kinderarmut: Diskursverschiebungen seit 1989/90

Jahrzehntelang wurde das Problem der wachsenden Kinderarmut verdrängt, beharrlich totgeschwiegen und systematisch verharmlost. Standen früher meist Ältere im Mittelpunkt der Armutsberichterstattung von Massenmedien und der Spendenaktionen zu geeigneten Anlassen wie dem Weihnachtsfest, so sind es seit geraumer Zeit fast ausschließlich Kinder, die im Zusammenhang mit sozialer Benachteiligung, Verarmung und Verelendung von Menschen in der Bundesrepublik öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Dass die Kinder mittlerweile häufiger als eigene Subjekte wahrgenommen wurden, sicherte ihnen mehr und ihren ebenfalls armen Müttern weniger Aufmerksamkeit als noch während der 1980er-Jahre.

Familien, Frauen und Kinder waren nunmehr zu einem deutlich höheren Anteil auf Sozialhilfe angewiesen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Der Frankfurter Ökonom Richard Hauser sprach deshalb im Jahr 1989 erstmals von einer „Infantilisierung der Armut“ . Als die Zahl der in Sozialhilfehaushalten lebenden Kinder kurz nach der Vereinigung von BRD und DDR die Millionengrenze überschritt bzw. als dieser Umstand der Öffentlichkeit im Frühjahr 1993 mit einiger Zeitverzögerung bekannt wurde, war das Geschrei groß. Nunmehr avancierte die Kinderarmut zu einem Modethema in deutschen Massenmedien. Typisch dafür war ein unter dem Zitat-Titel „Bitterkeit und Wut“ erschienener Artikel im Spiegel (vom 17.10.1994). Der Verfasser stellte fest, „ungerechte staatliche Transfersysteme“ hätten immer mehr Familien unter die Armutsgrenze getrieben: „Auch für Durchschnittsverdiener wird Nachwuchs zum sozialen Risiko.“ Die schwierige Lage der Betroffenen wurde eindringlich geschildert und mit statistischen Daten unterfüttert: „Noch nie lebten so viele Familien und Alleinerziehende von der Sozialhilfe (fast 440.000), noch nie so viele Kinder in Obdachlosenheimen, Notunterkünften und auf der Straße (rund 500.000).“

Kennzeichnend dafür, wie die damalige Koalition aus CDU/CSU und FDP unter Bundeskanzler Helmut Kohl das von ihr selbst mit verursachte bzw. verschärfte Problem beschönigte, war die öffentliche Kontroverse um den Zehnten Kinder- und Jugendbericht kurz vor der Bundestagswahl am 27. September 1998. Die von der Regierung selbst berufene Sachverständigenkommission hielt es wegen unterschiedlicher Definitionen und Messverfahren zwar für unmöglich, die „zutreffende“ Zahl der armen Kinder und Familien zu ermitteln. Sie gelangte jedoch zu dem Schluss, dass Kinderarmut in Deutschland „ein gravierendes Problem“ sei. Sowohl der Anteil der Sozialhilfeempfänger*innen bei Kindern und Jugendlichen als auch der Anteil jener Kinder sei gestiegen, deren Pro-Kopf-Einkommen nicht die Hälfte des Einkommensanteils erreicht, der für sie in dem Haushalt vorhanden sein müsste, damit sie oberhalb der so definierten Armutsgrenze lebten, und damit aus der Altersarmut früherer Jahre eine Armut junger Menschen geworden. Hingegen erklärte die Bundesregierung in einer Stellungnahme: „Die sozialen Sicherungssysteme – Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe etc. – verhindern existenzbedrohende Not und reale Armut.“

Noch immer berichteten Journalist*innen eher sporadisch über die Armut von Familien und Kindern, wobei sie sich meist auf die Schilderung spektakulärer bzw. „Problemfälle“ beschränkten. Vor und nach dem Kanzlerwechsel von Kohl zu Schröder häuften sich die Pressemeldungen über Kinderarmut. Oft beruhigten die Journalist*innen sich und ihr Publikum jedoch gleich wieder mit dem Hinweis, es handle sich dabei weniger um materielle Not als um fehlende Zuwendung, mentale Verwahrlosung und Vernachlässigung durch die Eltern. Außerdem erfolgte die ideologische Entsorgung des Problems durch eine Kulturalisierung bzw. Pädagogisierung und eine Demografisierung, die den mehrdeutigen Begriff „Generationengerechtigkeit“ zur Legitimation eines weiteren „Um-“ bzw. Abbaus des Sozialstaates einschließlich der Kürzung von Altersrenten missbraucht.

In der öffentlichen Diskussion über missbrauchte und verwahrloste, teilweise unter tragischen Umständen gestorbene Kinder wie Jessica in Hamburg, Kevin in Bremen und Lea-Sophie in Schwerin, die aufgrund entsprechender Medienberichte manchmal beinahe hysterische Züge annahm, wurde vor allem der Druck auf die Behörden erhöht, früher und massiver einzugreifen. Der sozioökonomische Hintergrund dieser Familientragödien wurde aber meistens ausgeklammert. Vielmehr verbanden sich damit in den Massenmedien die Bilder von „Unterschicht“-Eltern, denen ihre Kinder völlig egal sind und die nur am eigenen Konsum, aber nicht an den Wertorientierungen der Mehrheitsgesellschaft bzw. der Mittelschicht interessiert sind.

Bald wurde nicht nur häufiger und ausführlicher, sondern auch sehr viel differenzierter als früher über die Armut der jüngsten Gesellschaftsmitglieder berichtet. Während sich audiovisuelle Medien stärker auf situative Erfahrungs- und Stimmungsberichte konzentrierten, die rein deskriptiv zu vermitteln suchten, was Armut hierzulande bedeutet und welche Auswirkungen sie im Alltag davon betroffener Familien hat, zeichneten viele Printmedien ein umfassenderes Bild. Vor allem die Lokalzeitungen, aber auch überregionale Tageszeitungen und wöchentlich erscheinende Nachrichtenmagazine veröffentlichten ungefähr seit der Jahrtausendwende immer häufiger Artikel über sozial benachteiligte Familien und das wachsende Leid ihrer jüngsten Mitglieder. Von anerkannten Qualitätszeitungen wie der Frankfurter Rundschau und der Süddeutschen Zeitung über Wochenzeitungen wie die Zeit und Nachrichtenmagazine wie Focus, Spiegel und Stern bis zu Boulevardblättern wie der tz und Frauen- bzw. Modemagazinen wie der Brigitte brachten praktisch alle bedeutsamen Publikationsorgane des Landes umfangreiche Reportagen und manchmal rührselige Berichte über Kinderarmut.

Gleichwohl oder gerade deshalb blieb die politische und mediale Debatte häufig auf der Erscheinungsebene, wo man weder die gesellschaftlichen Hintergründe des Problems erfassen noch Erfolg versprechende Strategien zu seiner Lösung entwickeln kann. Dass die strukturellen Ursachen eine Leerstelle blieben, machen Überschriften wie „Kinder machen arm“ im Bremer Weser-Kurier (vom 7.12.1999) deutlich. Auch wurde selten auf einem hohen theoretischen Niveau über die Notwendigkeit und die Möglichkeit wirksamer Gegenmaßnahmen reflektiert.

Den öffentlichen Diskurs über Kinderarmut durchziehen zwei Grundmuster, die jedoch selten „in Reinkultur“ vorkommen: Entweder wird am Einzelfall demonstriert, welche konkreten Auswirkungen die Armut beispielsweise auf Mehrkinderfamilien in „sozialen Brennpunkten“ hat – wodurch man mehr oder weniger erfolgreich Mitleid für die Betroffenen bei den Leser*innen weckt. Sich moralisch über die wachsende Not und das erschreckende Elend in einem reichen Land zu empören, hilft jedoch wenig, weil (Kinder-)Armut einerseits konstitutiver Bestandteil des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ist und die Bundesregierung sie andererseits legitimiert und sehr wenig dagegen tut. Oder die Medienmacher*innen ziehen (offizielle) Statistiken heran, um damit zu belegen, wie problematisch eine hohe Armutsquote unter Kindern in demografischer Hinsicht für Deutschland bzw. ökonomisch für den „Standort“ ist und welche Nachteile das für die heimische Volkswirtschaft hat. Kinder galten – in der neoliberalen Diktion zum „Humankapital“ bzw. „-vermögen“ avanciert – als Hoffnungsträger*innen für den „Standort D“ und als „Zukunft der Gesellschaft“, während Senior*innen zu unproduktiven Belastungsfaktoren abgestempelt wurden. Doch was taugt der sicherlich gut gemeinte Appell an die nationale Verantwortungsgemeinschaft, wenn die überproportional von Armut betroffenen Halbwüchsigen eben (noch) keine „Leistungsträger“ der Volkswirtschaft, sondern als „teure Kostgänger“ eines „überbordenden“ Wohlfahrtsstaates diskriminierte Angehörige der gesellschaftlichen Unterschicht sind?

Der deutsche Diskurs über Kinderarmut schwankt zwischen dem Hang zur Moralisierung dieses Problems und dem vermeintlichen Zwang zur Sicherung des „Wirtschaftsstandortes“. Weder die Mobilisierung von Mitleid gegenüber den hilflosen Lebewesen noch die Instrumentalisierung der Standortlogik zwecks erfolgreicherer Bekämpfung der Kinderarmut können wirklich überzeugen. Wenn der „Standort D“ im Mittelpunkt steht, kommen arme Kinder und schlecht (aus)gebildete Jugendliche höchstens als brachliegendes „Humankapital“ vor. Zwar kann man auch im nationalökonomischen bzw. im Standortinteresse berechtigte Kritik an der Kinderarmut üben. Man läuft aber unter diesen Umständen leicht Gefahr, den Bock zum Gärtner zu machen und Ratschlägen neoliberaler Ökonomen zu folgen, deren Realisierung das Problem wahrscheinlich noch weiter verschärfen würde. Sehr viel sinnvoller erscheint der Versuch, von den Betroffenen und ihren fundamentalen Rechten auszugehen, wie sie die UN-Kinderrechtskonvention enthält, um auf diese Weise den politischen Druck von unten zu verstärken. Gerade die Hegemonie des Marktradikalismus und die Dominanz der neoliberalen Leistungsideologie verhindern nämlich bisher zusammen mit einem entsprechend deformierten Gerechtigkeitsbegriff, dass mehr als Krokodilstränen über fehlende Bildungschancen der Kinder (mit Migrationshintergrund) vergossen und wirksame Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Zynisch wirkte, dass die damalige Bundesfamilienministerin Renate Schmidt in einem Gastbeitrag für Bild am Sonntag (vom 27.2.2005) unter dem bezeichnenden Titel „Armut hängt nicht nur vom Geld ab“ den Hartz-IV-Empfänger*innen wohlfeile Ratschläge gab, wie sie ihre Kinder mit Eintopf statt mit Fast Food billiger und gesünder ernähren könnten. Entscheidender als die Frage, ob eine Familie über viel Geld verfüge, sei die Frage, ob sie es verstehe, gut mit Geld umzugehen. Ganz ähnlich wie die per Boulevardzeitung erteilten Ratschläge der damaligen Familienministerin, nämlich „Geld allein hilft nicht“, war ein Artikel in der Welt (vom 4.5.2005) überschrieben. In dem berichtete Dorothea Siems über ein Regierungsgutachten zum Thema einer „nachhaltigen“, soll heißen: die Geburtenrate steigernden bzw. stabilisierenden Familienpolitik.. Dass Geld allein nicht hilft, weder gegen die Armut von noch gegen die – damit zweifellos zusammenhängende – Armut an Kindern, hat auch noch nie ein*e seriöse*r Armutsforscher*in oder Demograf*in behauptet. Aber dass der Staat die Armut von Familien nicht beseitigen und junge Menschen nicht motivieren kann, in Zeiten großer sozialer Unsicherheit mehr Kinder in die Welt zu setzen, ohne viel Geld auszugeben, ist gleichfalls eine Binse. Anders formuliert: Armut ist mehr, als wenig Geld zu haben. Aber wer (zu) wenig Geld hat, bleibt arm, selbst wenn ihm weder Liebe noch Zuwendung fehlen.

Dass die meisten Bundesbürger*innen heute unter „Kinderarmut“ in erster Linie nicht die Armut an, sondern von Kindern verstehen, ist als großer Erfolg der Armutsforschung und der auf diesem Gebiet besonders engagierten Organisationen zu werten. Freilich kann es sich dabei auch um einen semantischen Pyrrhussieg handeln, verdeckt der Begriff die Hintergründe und Entstehungsursachen des Phänomens doch eher. Denn arme Kinder haben arme Eltern, vor allem arme Mütter, die hinter ihrem Nachwuchs zu verschwinden drohen. Kinder als Armutsrisiko ihrer Eltern zu begreifen, verkennt die Tatsache, dass sie nicht die Ursache, sondern nur den Auslöser für soziale Probleme einer Familie bilden.

Umfang, Erscheinungsformen und Entstehungsursachen der Jugendarmut

Obwohl die Armut primär Heranwachsende und junge Erwachsene trifft, wird das Problem der sich ausbreitenden und verfestigenden Jugendarmut in Fachwissenschaft, Politik und (Medien-)Öffentlichkeit nach wie vor als Randthema behandelt. Während die Bücher und Broschüren zur Kinderarmut inzwischen ganze Bibliotheken füllen, haben Studien zur Jugendarmut immer noch Seltenheitswert. Dabei werden aus armen Kindern häufig arme Jugendliche und arme Erwachsene, die wieder arme Kinder bekommen.

Entweder nimmt man die armen Jugendlichen nicht wahr, weil das bei uns vorherrschende Armutsbild von absoluter Not und Elend in der sogenannten Dritten Welt geprägt ist. Oder der manchmal geradezu voyeuristische Blick vieler Beobachter*innen verweilt auf den Kleinkindern, die als Prototyp der „würdigen“ Armen gelten, weil man sie nicht selbst für ihre soziale Misere verantwortlich erklären kann. Selbst als „Kinderarmut“ beinahe zu einem Modethema der Massenmedien avancierte, blieb die zunehmende Armut von Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen ein blinder Fleck der Medienberichterstattung. Während das jämmerliche Schicksal der Kinder die Gemüter erregte, zeigte man den in einem noch stärkeren Maße von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen weiter die kalte Schulter.

Heute gibt es neben der immer noch hohen Jugendarbeitslosigkeit auch vermehrt Jugendarmut. Was nicht weiter verwundert. 2,051 Millionen junge Menschen unter 18 Jahren bzw. 15,2 Prozent aller Kinder und Jugendlichen lebten 2017 in Haushalten, die Arbeitslosengeld II und Sozialgeld nach dem SGB II (Hartz IV) bezogen. In den Bundesländern reichte die SGB-II-Quote 2017 von 7,3 Prozent in Bayern bis 32,2 Prozent in Bremen/Bremerhaven. 15,8 Prozent aller Bewohner*innen der Bundesrepublik waren im Jahr 2017 laut Mikrozensus, der zuverlässigsten Statistik ihrer Art, armutsgefährdet bzw. einkommensarm – wenn man die Armuts(risiko)schwelle der Europäischen Union von 60 Prozent des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens des Haushalts zugrunde legt. Selbiges galt für 2,755 Millionen bzw. 20,4 Prozent der Jungen und Mädchen unter 18 Jahren in Deutschland. Von den Heranwachsenden und jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 24 Jahren waren sogar 26 Prozent betroffen.

In der sozial- bzw. wirtschaftswissenschaftlichen Fachdiskussion wird die besonders hohe Armuts(risiko)quote der Heranwachsenden und jungen Erwachsenen relativiert, indem man auf dem privilegierten Status der häufig betroffenen Studierenden insistiert und konstatiert, diese müssten nur (wieder) im Haushalt ihrer wohlhabenden Eltern leben, um aus der Armutsstatistik herauszufallen. Abgesehen davon, dass vermutlich mehr Arme (z.B. Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften, Obdachlose, Menschen in Notunterkünften und Heimbewohner/innen) von den Statistiker*innen gar nicht erfasst werden, haben Volljährige in einem wohlhabenden, wenn nicht reichen Land wie der Bundesrepublik das Recht, einen eigenen Hausstand zu gründen und sich der finanziellen Abhängigkeit von ihren Eltern zu entziehen.

Hierzulande meint (relative) Armut, dass ganze Bevölkerungsgruppen von einer diskriminierenden Ungleichverteilung der materiellen Ressourcen betroffen sind. Armut bedeutet nicht bloß, wenig Geld zu haben. Denn vor allem Kinder und Jugendliche, die in armen Familien aufwachsen, sind auch persönlicher Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten beraubt, sozial benachteiligt und (etwa im Hinblick auf Bildung und Kultur, Wohlergehen und Gesundheit, Wohnen und Wohnumfeld, Freizeit und Konsum) unterversorgt. Wer aber schon in jungen Jahren deklassiert und ausgegrenzt wird, vermag kulturelle und Bildungsprozesse womöglich nie mehr im Sinne seiner persönlichen Emanzipation zu nutzen. Hier und heute bedeutet Armut für davon betroffene Jugendliche etwa, dass sie niedrige Schulabschlüsse erreichen und im Umgang mit Sprache und Lesestoff weniger geübt sind als Gleichaltrige, die im Wohlstand leben, während sie mehr Scheu vor dem Theater oder dem Museum haben. Da junge Menschen massivem Druck seitens ihrer Peergroup ausgeliefert sind, etwa durch das Tragen teurer Markenkleidung oder den Besitz immer neuer, möglichst hochwertiger Konsumgüter „mitzuhalten“, kann Armut für Mitglieder dieser Altersgruppe noch beschämender als für Mitglieder anderer Altersgruppen sein.

Gerade in der Adoleszenz wirkt Armut demütigend, deprimierend und demoralisierend, weil diese Lebensphase für das Selbstbewusstsein der Betroffenen von entscheidender Bedeutung ist. Unterversorgungslagen führen leicht zur sozialen Isolation der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen. Denn sie unterliegen viel stärker als Erwachsene dem Druck der Werbe- und Konsumgüterindustrie, die ihnen einzureden versucht, dass ein „cooler Typ“ nur ist, wer die teuerste Markenkleidung, das neueste Tablet oder das tollste Smartphone besitzt. Schule und Jugendhilfe können nur in beschränktem Maße dazu beitragen, befriedigende Lebensverhältnisse für Minderjährige und ein Höchstmaß an Chancengleichheit zwischen Jugendlichen unterschiedlicher sozialer wie ethnischer Herkunft zu schaffen.

Macht man den als „Globalisierung“ bezeichneten Prozess einer Umstrukturierung fast aller Gesellschaftsbereiche nach Markterfordernissen, einer Ökonomisierung und Kommerzialisierung für die Pauperisierung, soziale Polarisierung und Entsolidarisierung verantwortlich, liegen die Wurzeln des vermehrten Auftretens von Kinder-und Jugendarmut auf drei Ebenen:

  1. Im Produktionsprozess löst sich das „Normalarbeitsverhältnis“, unter dem Einfluss des Neoliberalismus mittels der Schlagworte „Liberalisierung“, „Deregulierung“ und „Flexibilisierung“ vorangetrieben, tendenziell auf. Es wird zwar keineswegs ersetzt, aber durch eine steigende Zahl atypischer, prekärer, befristeter, Leih- und (Zwangs-)Teilzeitarbeitsverhältnisse, die den so oder überhaupt nicht (mehr) Beschäftigten wie ihren Familienangehörigen weder ein ausreichendes Einkommen noch den gerade im viel beschworenen „Zeitalter der Globalisierung“ erforderlichen arbeits- und sozialrechtlichen Schutz bieten, in seiner Bedeutung stark relativiert. Außerdem existiert ein sozialer Teufelskreis: Kinderarmut führt zu Jugendarbeitslosigkeit, weil junge Menschen aus sozial benachteiligten Familien schlechte Chancen auf dem Lehrstellenmarkt haben, und Jugendarbeitslosigkeit führt zu Kinderarmut, nämlich dann, wenn davon betroffene Teenager ihrerseits Nachwuchs bekommen.
  2. Im Reproduktionsbereich büßt die „Normalfamilie“ – die etwa durch das Ehegattensplitting im Einkommensteuerrecht staatlicherseits subventionierte traditionelle Hausfrauenehe mit ein, zwei oder drei Kindern – in vergleichbarer Weise an gesellschaftlicher Bedeutung ein. Neben sie treten immer mehr Lebens- und Liebesformen, die weniger materielle Sicherheit für Kinder gewährleisten (sogenannte Ein-Elternteil-Familien, „Patchwork-Familien“, hetero- und homosexuelle Partnerschaften ohne Trauschein usw.). Alleinerziehende, meist Frauen, und ihre Kinder haben zusammen mit Mehrkinderfamilien das höchste Armutsrisiko.
  3. Hinsichtlich der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates bedingt der forcierte Wettbewerb zwischen „Wirtschaftsstandorten“ vermeintlich einen Abbau von Sicherungselementen für „weniger Leistungsfähige“, zu denen allemal Erwachsene gehören, die (mehrere) Kinder haben. Letztere sind deshalb stark von Armut betroffen, weil das neoliberale Projekt eines „Um-“ bzw. Abbaus des Wohlfahrtsstaates auf Kosten vieler Eltern geht, die weniger soziale Sicherheit als vorherige Generationen genießen.

Die Reformen der „Agenda 2010“ von Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Demontage des Sozialstaates durch die sogenannten Hartz-Gesetze haben für eine Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse und eine Verringerung der sozialen Sicherheit gerade für junge Menschen gesorgt. Wer als junger Mensch einen Ausbildungsplatz hat oder ein Praktikum macht, wird oft so schlecht bezahlt, dass man unter die Armutsgrenze rutscht. In vielen Berufen, Branchen und Regionen sind die Ausbildungsvergütungen so niedrig, dass sie mehr einem Almosen als einem Lohn gleichen. Die von CDU, CSU und SPD geplante Mindestausbildungsvergütung muss hoch genug sein, um den Betroffenen ein Mindestmaß an Planungssicherheit für ihr weiteres Leben zu garantieren. Innerhalb der Großen Koalition neigt die Union bislang jedoch zu einer Lösung, die eher Almosencharakter haben würde.

Während knapp die Hälfte aller neuen Arbeitsverhältnisse befristet sind, gilt das für drei Viertel aller jungen Menschen. Auch sind Unter-18-Jährige ohne Berufsausbildung und Kurzzeit-Praktikant*innen vom gesetzlichen Mindestlohn ausgenommen, was ihre Stellung auf dem Arbeitsmarkt naturgemäß schwächt. In einigen Berufen, Branchen und Regionen werden skandalös niedrige Ausbildungsvergütungen gezahlt. Mit dem Regelbedarf von Hartz IV in Höhe von 322 Euro (2019) im Monat plus Miet- und Heizkosten, wenn das Jobcenter die Wohnung für angemessen hält, kann man sich als junger Mensch vieles von dem nicht leisten, was für die meisten Gleichaltrigen als normal gilt. Heranwachsende und junge Erwachsene im Hartz-IV-Bezug, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und zur Bedarfsgemeinschaft ihrer Eltern gerechnet werden, dürfen nur dann einen eigenen Hausstand gründen, wenn das Jobcenter zustimmt.

Schließlich gehören Jugendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene unter 25 Jahren auch in dieser Hinsicht zu den Hauptleidtragenden der Hartz-IV-Gesetzgebung: Sie werden von den Jobcentern häufiger und (außer bei Meldeversäumnissen) auch schärfer sanktioniert als ältere Leistungsberechtigte. Bei der zweiten Pflichtverletzung, die darin bestehen kann, dass man einen Job nicht annimmt, ein Bewerbungstraining ablehnt oder eine Weiterbildung abbricht, müssen sie mit einer Totalsanktion rechnen: Das Jobcenter stoppt nicht bloß die Regelleistung, zahlt also kein Geld mehr für den Lebensunterhalt, sondern übernimmt auch nicht mehr die Miet- und Heizkosten. Hierdurch verlieren junge Menschen teilweise ihre Wohnung. So wird im Extremfall (vorübergehende) Obdachlosigkeit produziert. Diese besondere Strenge ist weder in vergleichbaren Ländern noch auf anderen Rechtsgebieten üblich: Jugendliche oder auch manch heranwachsenden Straftäter*innen werden zum Beispiel milder bestraft, als wären sie bereits erwachsen.

Obwohl der Sozialstaat nach dem Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG) laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 die Pflicht hat, ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ für alle Transferleistungsbezieher*innen zu gewährleisten, tritt er dieses Verfassungsgebot ausgerechnet bei jungen Menschen permanent mit Füßen. Selbst wenn die Grundsicherung für Arbeitsuchende mit ihrem Regelbedarf sowie der Übernahme „angemessener“ Wohnkosten das soziokulturelle Existenzminimum gerade noch sichert, wie das Bundesverfassungsgericht am 23. Juli 2014 in einem weiteren Hartz-IV-Urteil festgestellt hat, bedeutet jede Kürzung wegen einer Sanktionierung zumindest relative Armut für Leistungsberechtigte. Im Falle einer „Totalsanktion“, die normalerweise zur völligen Mittellosigkeit und bei Unter-25-Jährigen manchmal zur Wohnungslosigkeit des Leistungsbedürftigen führt, liegt sogar absolute, extreme bzw. existenzielle Armut vor.

Durch massiven Druck führt man junge Menschen nicht etwa „auf den rechten Weg“, sondern veranlasst sie höchstens, sich auf illegale Weise durchs Leben zu schlagen. Die unsägliche Rohrstock-Pädagogik vergangener Zeiten hat in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts nicht zu suchen. Denn mit derartiger Strenge bewirkt man keine Verhaltensänderung im positiven Sinne, sondern oft genug das Gegenteil. Sanktionen sind nicht bloß inhuman und verfassungswidrig, sondern auch kontraproduktiv. Sie müssen so schnell wie möglich beseitigt, zumindest durch ein Sanktionsmoratorium bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts ausgesetzt werden.

Das im Jahr 2019 zu erwartende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sanktionspraxis der Jobcenter kann das Arbeitsmarktregime zementieren oder entschärfen. Die harten Sanktionen bilden die Achillesferse des Hartz-IV-Systems. Werden sie in Karlsruhe bestätigt, bedeutet dies einen herben Rückschlag für seine Kritiker*innen. Würde das höchste deutsche Gericht die Sanktionen hingegen für verfassungswidrig erklären, fiele das während der vergangenen Jahre durch nicht weniger als zehn Gesetze „nachgebesserte“ Hartz-IV-System wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Eine weitgehend repressionsfreie Grundsicherung wäre übrigens weder mit den Überzeugungen der gesellschaftlichen Eliten noch mit den Vorstellungen der Regierungsparteien kompatibel.

Vor allem die hohe Zahl der Kinder, die durch eine Sanktionierung ihrer Arbeitslosengeld II beziehenden Eltern unverschuldet Nachteile in Kauf nehmen müssen, könnte die Richter veranlassen, der bisherigen Sanktionspraxis einen Riegel vorzuschieben oder der Willkür vieler Jobcenter engere Grenzen zu setzen. Vielleicht macht sich das Bundesverfassungsgericht auch die Position der SPD-Führung zu eigen: Demnach sind Sanktionen zwar erforderlich und dem Staat erlaubt, wenn er Transferleistungsbezieher*innen im Interesse seiner Steuerbürger*innen zur Kooperation zwingen muss; Unter-25-Jährige dürfen aber nicht schärfer sanktioniert werden als Erwachsene, weil dies dem Gleichheitsgrundsatz widerspricht. Auch könnte wenigstens die Totalsanktionierung künftig entfallen. Niemand sollte jedoch auf eine juristische Lösung hoffen – das Engagement für eine politische Totalrevision von Hartz IV bleibt unverzichtbar!

Weichenstellungen für eine wirksame Bekämpfung der Kinder- und Jugendarmut

Weil die Kinderarmut zwar öffentlich beklagt, aber nicht energisch bekämpft und die Jugendarmut weitgehend ignoriert wird, muss zunächst ein geistig-moralisches Klima geschaffen werden, das ihre „strukturelle Unsichtbarkeit“ (Daniel März) beendet. Nötig sind mehr Sensibilität für aktuelle Prekarisierungs-, Marginalisierungs- bzw. Pauperisierungsprozesse sowie eine höhere Sozialmoral, die aufgrund der Wohnungsnot und des Mietwuchers in Großstädten und Ballungsgebieten allmählich bis in die Mittelschicht reichende Desintegrations-, Exklusions- und Deprivationstendenzen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift. Kinder- und Jugendarmut bilden ein viel zu ernstes Problem, um seine Lösung den unmittelbar betroffenen Familien sowie meistenteils gleichfalls hilflosen Erzieher*innen, Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen zu überlassen. Jugendliche sind im Unterschied zu den Vorschulkindern die besten Expert*innenihrer eigenen sozialen Situation. Außerdem sollten die Jugendorganisationen und der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) als ihr Dachverband beteiligt werden, wenn es um die Armut von Minderjährigen geht.

Wenn die Entstehung von Kinder- und Jugendarmut nicht monokausal zu begreifen ist, sondern multiple, teilweise eng miteinander verknüpfte Ursachen hat, ist sie auch nur mehrdimensional zu bekämpfen. Maßnahmen zur Verringerung und Verhinderung der Entstehung von weiterer Kinder- und Jugendarmut sollten auf unterschiedlichen Politikfeldern und Handlungsebenen ansetzen. Es gibt mithin nicht den einen Hebel, der bloß umzulegen wäre, damit Armut und soziale Ausgrenzung in Deutschland schlagartig und für alle Zeit verschwinden. Vielmehr bedarf es einer grundlegenden Kurskorrektur auf allen für das Problem maßgeblichen Politikfeldern. Zu nennen sind hier die Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitspolitik, die Steuer- und Finanzpolitik, die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die Familienpolitik, die Bildungspolitik sowie die Wohnungsbau- und Stadtentwicklungspolitik. Dabei müssen die Landes- und die Kommunalpolitik neben der Bundesebene einen Teil der Verantwortung übernehmen. Ihre finanziellen Spielräume und ihre politischen Handlungsmöglichkeiten sind allerdings deutlich beschränkter. Je umfassender die Maßnahmen zur Verringerung bestehender und/oder zur Verhinderung der Entstehung neuer Kinder- und Jugendarmut angelegt und je besser sie aufeinander abgestimmt sind, desto eher ist dem Problem beizukommen.

Es gibt zwar kein Patentrezept zur Bekämpfung der Kinder- und Jugendarmut, aber vier Kernelemente eines integrierten Gesamtkonzepts, die sämtlich mit einem kleinen „g“ bzw. mit großen „G“ beginnen: ein gesetzlicher Mindestlohn ohne Ausnahmen und in existenzsichernder Höhe, eine Ganztagsbetreuung für alle Klein- und Schulkinder, eine Gemeinschaftsschule und eine soziale Grundsicherung, die ihren Namen im Unterschied zu Hartz IV verdient, weil sie bedarfsgerecht, armutsfest und repressionsfrei ist.

  1. Kinder sind arm, wenn ihre Familien bzw. ihre Mütter arm sind. Deshalb fängt auch die Bekämpfung der Kinderarmut im Erwerbsleben an. Nur durch einen gesetzlichen Mindestlohn in existenzsichernder Höhe lässt sich der Niedriglohnsektor, das Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien-, Kinder- und Jugendarmut zurückdrängen. Der seit dem 1. Januar 2019 geltende Mindestlohn in Höhe von 9,19 Euro brutto pro Stunde verhindert höchstens eine weitere Lohnspreizung und dichtet den Niedriglohnsektor zwar nach unten ab, beseitigt ihn jedoch nicht – was aber nötig wäre, um Armut und soziale Ausgrenzung nachhaltig zu bekämpfen. Geringverdiener*innen mit Kindern, die in einer Großstadt mit den heute üblichen hohen Mieten wohnen, haben praktisch keine Chance, der Hartz-IV-Abhängigkeit durch Anhebung ihres Lohns auf die gesetzlich vorgeschriebene Mindesthöhe zu entkommen. Sie müssen nach wie vor die Grundsicherung für Arbeitsuchende in Anspruch nehmen und den entwürdigenden Gang zum Jobcenter antreten. Beseitigt werden müssen die Jugendliche treffenden Ausnahmen, damit der Mindestlohn für Beschäftigte jeden Alters gleichermaßen gilt.
  2. Noch immer fehlt zahlreichen Eltern in Deutschland eine Versorgung mit gut ausgestatteten öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen, die in manchen europäischen Staaten fast flächendeckend existieren. Erheblich mehr Ganztagsschulen, die gebührenfrei nach Vollendung des 1. Lebensjahres zur Verfügung gestellte Krippen-, Kindergarten- und Hortplätze ergänzen sollten, hätten einen Doppeleffekt: Einerseits würden von Armut betroffene oder bedrohte Kinder umfassender betreut und systematischer gefördert, andererseits könnten ihre Eltern leichter als sonst einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, was sie finanzielle Probleme eher meistern ließe. Vornehmlich alleinerziehende Mütter – und im seltenen Ausnahmefall: Väter – würden befähigt, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, ohne hier wie dort Abstriche machen zu müssen. Durch die Ganztags- als Regelschule lassen sich psychosoziale Benachteiligungen insofern kompensieren, als eine bessere Versorgung der Kinder mit Nahrung (gemeinsame Einnahme des Mittagessens), eine gezielte Förderung leistungsschwächerer Schüler*innen etwa bei der Erledigung von Hausaufgaben und eine sinnvollere Gestaltung der nachmittäglichen Freizeit möglich werden.
  3. So wichtig mehr und bessere öffentliche Ganztagsbetreuung für Kinder ist, so wenig reicht sie aus, um Bildung stärker von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. Gleichwohl stößt die öffentliche Reformdebatte selten bis zum eigentlichen Hauptproblem, der hierarchischen Gliederung des Schulwesens in Deutschland, vor. Wer von der Gesamt- bzw. Gemeinschaftsschule für Kinder und Jugendliche aller Bevölkerungsschichten jedoch nicht sprechen will, sollte auch von der Ganztagsschule schweigen. Zweckmäßig wäre eine umfassende Strukturreform, die der sozialen Selektion im mehrgliedrigen deutschen Schulsystem ein Ende bereiten müsste. In „einer Schule für alle“ nach skandinavischem Vorbild wäre kein Platz für die frühzeitige Aussonderung „dummer“ Kinder, die arm sind bzw. aus sogenannten Problemfamilien stammen. Mit einer inklusiven Pädagogik, die keine „Sonderbehandlung“ für bestimmte Gruppen (Menschen mit Behinderung und mit Migrationshintergrund ebenso wie Arme) mehr kennt, könnte man sozialer Desintegration und damit dem Zerfall der Gesellschaft insgesamt entgegenwirken.
  4. Ergänzend zu einer solidarischen Bürgerversicherung, die alle Wohnbürger*innen mit sämtlichen Einkommen und Einkunftsarten (möglichst ohne Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen) zur Finanzierung der nötigen Leistungen im Sozial-, Pflege- und Gesundheitsbereich heranzieht, bedarf es einer sozialen Grundsicherung, die im Gegensatz zu Hartz IV jedem das soziokulturelle Existenzminimum garantiert. Möglichst bald muss das Einkommen eines Haushaltes mit Kindern und Jugendlichen so weit aufgestockt werden, dass deren Grundversorgung gesichert ist. Dazu gehört auch ein neues Berechnungsverfahren für die Regelsatzhöhe, das – wie vom Bundesverfassungsgericht in seinem Hartz-IV-Urteil vom 9. Februar 2010 gefordert – sachgerecht, seriös und transparent sein muss. Das Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) wird von vielen mittelbar oder unmittelbar Betroffenen wegen seiner bürokratischen Struktur nicht in Anspruch genommen, weshalb seine Leistungen erhöht und sofort in den Regelbedarf überführt werden sollten.

Problematisch ist die Forderung nach einer Kindergrundsicherung, die alle Bestandteile des Familienleistungsausgleichs durch eine steuerfinanzierte und pauschalierte Universalleistung ersetzen soll. Denn alle Kinder und Jugendlichen würden über einen Kamm geschoren, ganz unabhängig davon, wo und in welchen Haushaltskonstellationen sie leben, wie alt und ob sie sozial benachteiligt oder gesundheitlich eingeschränkt sind. Selbst ein großes eigenes Vermögen (aus einer Schenkung oder Erbschaft) wäre kein Hindernis für die Alimentierung durch den Staat. Umgekehrt muss es durch eine stärkere Zielgruppenorientierung im Kampf gegen die Armut darum gehen, besonders jene Kinder und Jugendliche zu fördern, die aufgrund ihrer strukturellen Benachteiligung und speziellen Handikaps keine optimalen Entwicklungsmöglichkeiten haben.

Überfällig ist eine Großoffensive gegen Kinder- und Jugendarmut, die der Bund zusammen mit den Ländern und Kommunen anstoßen und Kirchen, Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft, Wohlfahrtsverbände, Jugend- und Betroffenenorganisationen, Bürgerinitiativen, zivilgesellschaftliche Akteure sowie globalisierungskritische Netzwerke mittragen sollten. Denkbar wäre auch ein großer Runder Tisch, der im gesellschaftlichen Konsens und mit Unterstützung der öffentlichen Meinung geeignete Sofortmaßnahmen vorschlagen könnte.

Durch die von CDU, CSU und SPD geplante schrittweise Abschaffung des Solidaritätszuschlages würden Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen nicht entlastet, wie oft behauptet. Denn Geringverdiener*innen haben gar nichts und Normalverdiener*innen wenig vom Wegfall des „Soli“, weil dieser bei einem Single erst oberhalb eines Monatsverdienstes von 1.500 Euro und bei einem Ehepaar mit zwei Kindern erst bei einem Monatseinkommen von über 4.000 Euro anfällt. Umgekehrt sparen Hochvermögende und große Konzerne am Ende zwei- bzw. dreistellige Millionenbeträge pro Jahr, weil der ohne Zweckbindung erhobene und jährlich Einnahmen in Höhe von über 18 Milliarden Euro erbringende Solidaritätszuschlag nicht bloß als Ergänzungsabgabe auf der Einkommensteuer, sondern auch auf der Kapitalertrag- und der Körperschaftsteuer liegt.

Selbst wenn die ursprünglich als Begründung angeführte Vereinigung von BRD und DDR die Erhebung des Solidaritätszuschlages verfassungsrechtlich wirklich irgendwann nicht mehr rechtfertigt, bleibt die Forderung des Grundgesetzes nach Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse bisher unerfüllt. Dies gilt besonders für Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien, die sich in den Großstädten und bestimmten Regionen (Berlin, Ruhrgebiet sowie Bremen/Bremerhaven) konzentrieren.

Finanzieren lassen sich die Kosten einer Großoffensive gegen Kinder- und Jugendarmut in Deutschland aus dem mit einigen Unterbrechungen seit 1991 in unterschiedlicher Höhe (heute: 5,5 Prozent) erhobenen Solidaritätszuschlag. Damit könnten abgehängte Regionen befähigt werden, ihre soziale, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur so weit zu entwickeln, dass die dort extrem hohe Kinder- und Jugendarmut sinkt. Nur wenn genügend Kindertagesstätten, gut ausgestattete Schulen (mit besser ausgebildetem und mehr Lehrpersonal, Schulsozialarbeiter*innen und Schulpsycholog*innen) sowie interessante Freizeitangebote (von Jugendzentren über Bibliotheken bis zu Museen) vorhanden sind, kann verhindert werden, dass ein Großteil der nachwachsenden Generation unterversorgt und perspektivlos bleibt. Warum sollen nicht alle Kinder und Jugendliche in öffentlichen Ganztagseinrichtungen unentgeltlich ein warmes Mittagessen bekommen, ohne dass bedürftige Eltern dies über das Bildungs- und Teilhabepaket in einem bürokratischen Verfahren beantragen oder Spendensammlungen unter privaten Wohltätern stattfinden müssen?

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt hat er die Bücher „Auf dem Weg in eine andere Republik? – Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus“, „Rechtspopulisten im Parlament. Polemik, Agitation und Propaganda der AfD“ sowie „Grundeinkommen kontrovers. Plädoyers für und gegen ein neues Sozialmodell“ veröffentlicht.

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Literatur:

  • Butterwegge, Christoph: Armut, 4. Aufl. Köln 2019
  • Butterwegge, Christoph: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 4. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2016
  • Butterwegge, Christoph: Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?, 3. Aufl. Weinheim/Basel 2018
  • Butterwegge, Christoph (Hg.): Kinderarmut in Deutschland. Ursachen, Erscheinungsformen und Gegenmaßnahmen, 2. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2000
  • Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 6. Aufl. Wiesbaden 2018
  • Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael/Belke-Zeng, Matthias: Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland, 2. Aufl. Wiesbaden 2008
  • Butterwegge, Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Ralf: Kritik des Neoliberalismus, 3. Aufl. Wiesbaden 2017
  • Butterwegge, Christoph/Rinke, Kuno (Hg.): Grundeinkommen kontrovers. Plädoyers für und gegen ein neues Sozialmodell, Weinheim/Basel 2018

 

 

 

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