Armut

Jugendarmut nicht übersehen

Die Bundes­arbeits­gemeinschaft Katholische Jugend­sozialarbeit (BAG KJS) bringt alle zwei Jahre den „Monitor Jugendarmut“ heraus, eine Auswertung von Statistiken und Zahlenmaterial zu Jugendarmut. Diplom-Sozialpädagogin Silke Starke-Uekermann leitet das Projekt „Monitor Jugendarmut“ in ihrer Funktion als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und Jugendsozialarbeit.

Von Silke Starke-Uekermann

In Deutschland hat Armut ein jugendliches Gesicht. Ein Gesicht, von dem sich die Öffentlichkeit gerne abwendet. Dabei ist das Problem der Jugendarmut gravierend. Insgesamt sind 13,4 Millionen Menschen in Deutschland armutsgefährdet. Aber die am stärksten von Armut bedrohte Altersgruppe sind junge Menschen zwischen 14 und 25 Jahren. Rund 3,4 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene leben hierzulande in armen Familien. (siehe Grafik 1)1

Im Jahr 2017 lag die Armutsgefährdungsquote der 18- bis 24-Jährigen bei 26 Prozent. Damit ist die Armutsgefährdung junger Menschen unter 25 Jahren seit 2011 (23,2 Prozent) um 2,8 Prozent angestiegen. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre rangieren bei der Armutsgefährdung auf Platz zwei. Waren im Jahr 2011 noch 18,7 Prozent der bis 18-Jährigen armutsgefährdet, sind es 2017 bereits 20,4 Prozent. (Siehe Grafik 2)2

Hinzu kommt eine Dunkelziffer von rund einer Million Kindern und Jugendlichen in Familien, die Anspruch auf Unterstützungsleitungen wie Hartz IV oder Wohngeld haben, aber deren Eltern aus unterschiedlichsten Gründen keine entsprechenden Anträge stellen. Das vor kurzem beschlossene „Starke-Familien-Gesetz“ bringt Verbesserungen und erleichtert auch die Antragsstellung. Aber das Grundproblem bleibt nach wie vor bestehen.

Lebensla(n)ge Armut

Arme Kinder und Jugendliche wachsen ganz anders auf als diejenigen, die das Glück hatten, in eine besser situierte Familie geboren zu werden. Auch wenn die Armutsgefährdungsquote zunächst nur die (drohende) materielle Armut offenbart, wirkt sich der Mangel an Geld einschneidend auf andere Lebensbereiche wie Gesundheit, Bildung, Freizeit oder die Gestaltung des Übergangs in den Beruf aus. „Armut“ bedeutet nicht nur eine materielle Unterversorgung, sondern eine Lebenslage.

2017 erschien der 15. Kinder- und Jugendbericht (KJB) der Bundesregierung3 unter dem Titel „Jugend ermöglichen“. Unmissverständlich stellt der Bericht heraus, dass im Alter zwischen 15 und 27 Jahren die zentralen Herausforderungen des Aufwachsens und des Erwachsenwerdens bewältigt werden müssen – der Bericht nennt sie die Verselbstständigung, die Qualifizierung und die Selbstpositionierung. Dabei stehen Jugendliche massiv unter Druck. Sie nehmen wahr, dass ihr Wert an ihrer Bildungsbiographie und ihrem Erfolg bemessen wird – und das eigentlich nur noch das Abitur als guter Schulabschluss gilt. Bildung ist in Deutschland aber ein hochselektives System und der Zugang zu einem erfolgreichen Berufsleben hängt stark von der sozialen Herkunft ab. Auch die Zeit, sich auszuprobieren, die Welt zu erkunden und verschiedene Wege zu gehen, steht längst nicht allen Jugendlichen zur Verfügung. Wenn sie von Armut betroffen sind, müssen sie möglichst rasch den Schritt in das Erwachsenenleben schaffen und eigenes Geld verdienen.

Jugend ist also nicht gleich Jugend. Insbesondere die Jugendhilfe (vgl. SGB VIII § 1) muss aber dazu beitragen, allen jungen Menschen eine Jugend zu ermöglichen, in der sie sich umfassend entwickeln, gute Bildungsabschlüsse erwerben, eigene Wege ausprobieren und erfolgreich in die Arbeitswelt einsteigen können. Vor allem die Jugendsozialarbeit hat den Auftrag, junge Menschen vor Benachteiligung und Ausgrenzung zu schützen und sie auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen. Deshalb fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. eine Sozial- und Jugendpolitik, die allen Jugendlichen „Jugend ermöglicht“ und ihnen einen guten Weg in das Erwachsenenleben ebnet; unabhängig von der sozialen Herkunft, der finanziellen Situation der Eltern oder dem familiären Bildungsstatus. Die soziokulturelle Teilhabe von Kindern und Jugendlichen ist unabhängig vom Einkommen der Eltern zu fördern und abzusichern. Wo existenzielle Fragen nicht gelöst sind, besteht kein Raum, Bildungswege zu planen oder berufliche Perspektiven zu entwickeln. Daher sind die wichtigsten Probleme zuerst zu lösen, individuelle Hilfsangebote sind auszubauen und regelhaft anzubieten; dazu zählt auch Hilfe bei der Alltagsbewältigung. Wer arm ist, befindet sich in einem Kreislauf, den es zu durchbrechen gilt! (Siehe Grafik 3)4

Junge Menschen am Übergang sind besonders armutsgefährdet

Auch wenn aktuell die Konjunktur-Prognosen negative Töne enthalten und in unterschiedlichsten Medien von einer Rezession zu lesen ist, ist die Arbeitsmarktlage in Deutschland nach wie vor günstig. Betriebe beklagen, dass sie Ausbildungsstellen nicht besetzen können. Gleichzeitig steigt die Quote ungelernter bzw. ausbildungsloser junger Menschen. Derzeit haben mehr als zwei Millionen junge Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahren keine abgeschlossene Berufsausbildung5. Damit sind mehr als 14 Prozent der jungen Menschen ausbildungslos. Seit 2013 ist die Quote kontinuierlich angestiegen.

Binnen eines Jahres stieg zuletzt die Quote der Schulabbrecher*innen von 5,7 auf 6,3 Prozent an. Die Anstrengungen der letzten Jahre reichen nicht aus, um Bildungsarmut zu verhindern. Dem deutschen Bildungssystem mangelt es an Durchlässigkeit und Erfolgschancen, so sieht es selbst die Wirtschaft wie der Bildungsmonitor 2019 der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)6 zeigt: Teilhabechancen sind vielerorts unzureichend und von einer Chancengerechtigkeit kann keine Rede sein. Und in der Mehrzahl der Bundesländer gab es keine Fortschritte die Bildungsarmut zu reduzieren. Stattdessen steigen die Herausforderungen.

Ein besonders hohes Risiko, arbeitslos zu werden, tragen Jugendliche und junge Erwachsene ohne einen Schulabschluss. Mehr als 52.000 Jugendliche haben 2017 die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. Das sind 5.000 mehr als noch vor zwei Jahren7. Ihr Risiko, arbeitslos zu werden, ist fünfmal höher als bei denjenigen mit einem Abschluss der Sekundarstufe II. Hier nicht mitgerechnet ist die große Zahl von Kindern und Jugendlichen, die trotz Inklusionsverpflichtung auf Förderschulen keinen regulären Schulabschluss erwerben können, dies betrifft derzeit 70 Prozent der 350.000 Schüler*innen an Förderschulen.

282.504 junge Menschen, die ein Interesse an einer Berufsausbildung hatten, fanden im Jahr 2017 keine Stelle. Sie alle waren bei der Arbeitsagentur oder dem Jobcenter registriert und als ausbildungsreif eingestuft. Von ihnen galten 23.712 als unversorgt. 164.485 junge Menschen werden in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit als „im alternativen Verbleib“ (Übergangssystem, Schule; Praktika) erfasst. 94.307 sind „unbekannt verblieben“.8 Im letzten Ausbildungsjahr (2018) sind insgesamt 270.000 Jugendliche in das Übergangssystem eingemündet. Insgesamt suchen also viel mehr junge Menschen eine Ausbildungsstelle, als es Angebote gibt.

Von einem chancengerechten Ausbildungsmarkt, der allen jungen Menschen eine qualifizierte Ausbildung und damit Armutsprävention ermöglicht, ist Deutschland noch weit entfernt. Daher fordert die BAG KJS ein Recht auf Bildung, Ausbildung und Teilhabe. Durch ein im Gesetz verbrieftes Recht auf einen Ausbildungsplatz würde eine gleichberechtigte Teilhabe für alle Jugendlichen ermöglicht.

Sanktionsregeln treffen Jugendliche im Hartz IV-Bezug besonders hart

Sanktionen im SGB II sollen bewirken, dass Leistungsbeziehende ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen und sich um eine Arbeitsaufnahme bemühen. Dabei hat der Gesetzgeber die Sanktionsregeln für unter 25-Jährige strenger ausgestaltet als bei Älteren. Das kann in letzter Konsequenz zu einem Abrutschen in die Schattenwirtschaft oder Wohnungslosigkeit führen. Beim ersten Regelverstoß, der über ein Meldeversäumnis hinausgeht, sieht das Gesetz eine hundertprozentige Streichung der Regelleistungen vor. Beim nächsten Verstoß innerhalb eines Jahres kann auch die Miete gekürzt werden. So leben junge Menschen deutlich unter dem Existenzminimum (siehe Grafik 4)9. Die BAG KJS fordert, die verschärften Sanktionsregeln für junge Menschen abzuschaffen. Denn die betroffenen jungen Männer und Frauen brauchen Hilfe statt Bestrafung.

Armut macht krank und grenzt aus

Junge Menschen, die in armen Familien aufwachsen und deren Eltern nur über geringe Bildung verfügen, sind nicht nur in stark erhöhtem Maße von Krankheit, sondern auch von Beeinträchtigungen und Behinderungen betroffen10. „Chronische Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder psychische Störungen kommen in sozial schwachen, bildungsfernen Schichten viel häufiger vor“, sagt Gerd Glaeske, Professor an der Universität Bremen. Gleichzeitig ist die ärztliche Versorgung und die Gesundheitsförderung für (junge) Menschen in abgehängten Stadtteilen signifikant schlechter als in besser gestellten Vierteln und Regionen.11 Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischen Status sind häufiger übergewichtig, ihre Ernährung ist weniger gesund und zuckerhaltiger als von Jugendlichen mit höhrem sozioökonomischen Status. (Siehe Grafik 5).12

Auch der Sozialraum und die Wohnsituation von Jugendlichen spielen eine große Rolle für ihre Gesundheit. In Wohnquartieren, die von Armut geprägt sind und in denen es keine „Mischung“ mehr gibt, treten auch gesundheitliche Probleme gehäuft auf. Ansätze „vernetzter Hilfen“ sowie der „Gesundheitsbildung“ und Beratung sind auch für Jugendliche wichtig und müssen weiterentwickelt werden. Dazu zählen Möglichkeiten zum Sport/zur Bewegung in der Wohnumgebung, das Wissen über gute Ernährung sowie praktische Fähigkeiten wie Kochen mit frischen Zutaten. Außerdem fordert die BAG KJS ein qualitativ hochwertiges, kostenfreies und für alle zugängliches Schulessen. Präventive und kurative Gesundheitsleistungen müssen für Jugendliche und Kinder kostenfrei sein.

Im Engagement gegen Jugendarmut nicht nachlassen

Die BAG KJS tritt für den Ausgleich sozialer Benachteiligung ein. Mitarbeitende der Jugendsozialarbeit fördern junge Menschen dabei, Bildungschancen zu nutzen und ihrer Potentiale zu entfalten. Die BAG KJS versteht sich als Anwalt für sozial benachteiligte und/oder individuell beeinträchtigte junge Menschen, zu denen auch von Armut bedrohte oder betroffene gehören.

 

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1 Statistisches Bundesamt, Fachserie 15 Reihe 3, EU-SILC 2016

2 Statistisches Bundesamt, Mikrozensus, Sozialberichterstattung 2017

3 https://www.bmfsfj.de/blob/115438/d7ed644e1b7fac4f9266191459903c62/15-kinder-und-jugendbericht-bundestagsdrucksache-data.pdf

4 Monitor Jugendarmut in Deutschland 2018, Seite 6

5 Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke, BT-Drs. 19/12288

6 https://www.insm-bildungsmonitor.de

7 Caritas Studie Bildungschancen 2019, https://www.caritas.de/bildungschancen

8 Vgl. Berufsbildungsbericht 2018 und Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2018; https://www.bmbf.de/upload_filestore/pub/Berufsbildungsbericht_2018.pdf

und www.bibb.de/dokumente/pdf/bibb_datenreport_2018.pdf

9 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 19/2104

10 Pressemeldung DAK, 28. August 2018

11 Monitor Jugendarmut in Deutschland 2018, Seite 9

12 KiGGS Welle 2 (2014 – 2017); in Journal of Health Monitoring, 2018 3(1)

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