Kinder verdienen mehr – gerecht geht anders!
Der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) fordert die Bundesregierung auf, den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zur Neuberechnung der SGB II-Regelsätze in vollem Umfang umzusetzen und die Leistungen für Kinder und Jugendliche nach realen Bedürfnissen zu bemessen.
Das bedeutet: Die Regelsätze müssen deutlich erhöht werden! Kindern und Jugendlichen steht eine bedingungslose Grundversorgung zu, die materielle und ideelle Bedürfnisse wie z. B. Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Bildung und medizinische Versorgung befriedigt und sie in die Lage versetzt, frei von Armut aufzuwachsen. Darüber hinaus sind grundsätzlich auch andere Leistungen wie z. B. bestimmte Anschaffungen (z. B. Lernmittel) und Förderleistungen zu gewähren sowie die Teilnahme und Mitbestimmung an gesellschaftlichem Leben zu ermöglichen – beispielsweise durch die Bezuschussung von Freizeit- und Erholungsmaßnahmen und die Übernahme der Kosten für die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs. Dabei darf das als Argument oft genutzte Lohnabstandsgebot bei der Bemessung keine Rolle spielen. Zum einen diskriminiert dies Kinder und Jugendliche strukturell in einem Bereich, der mit ihrer Lebenssituation nichts zu tun hat. Zum anderen wäre die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns die adäquate Antwort auf die Forderung nach einem Lohnabstandsgebot.
Der Referentenentwurf der Bundesregierung für die Neuregelung der Regelsätze des Arbeitslosengelds II bleibt hinter den Anforderungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts deutlich zurück. Der höchste deutsche Gerichtshof forderte eine Neufestsetzung der Regelsätze nach einem transparenten Verfahren und in einem förmlichen Gesetz. Der nun vorliegende Entwurf entspricht weder den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts noch den tatsächlichen Bedürfnissen der betroffenen Menschen.
Bei der Berechnung der Regelsätze wurde nicht der tatsächliche Bedarf, sondern das verfügbare Einkommen der 15 Prozent der Bevölkerung am unteren Ende der Einkommensskala als Grundlage genommen. Da dieser Teil der Bevölkerung selbst jedoch in ähnlich prekären Verhältnissen lebt wie die Empfängerinnen und Empfänger von Transferleistungen, ist dies keine geeignete Berechnungsgrundlage für einen Regelsatz, der auch die soziokulturelle Teilhabe beinhaltet.
Der DBJR fordert die Bundesregierung nachdrücklich auf, die grundlegenden Mängel der Regelsatzfestlegung beim Arbeitslosengeld II zu beseitigen und die jetzt ermittelten Sätze im kommenden Jahr einer Überprüfung zu unterwerfen, um die Resultate der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) mit Bedarfserhebungen ergänzen zu können.
Der DBJR begrüßt das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 9. Februar 2010, welches deutlich gemacht hat, dass Kinder und Jugendliche einen höheren und andersartigen Bedarf als Erwachsene haben, dem die bisherige prozentuale Berechnung, ausgehend vom Bedarf von Erwachsenen, nicht gerecht wird. Darüber hinaus ist es erfreulich, dass erkannt wurde, dass es für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen notwendig ist, an Angeboten nonformaler Bildung – wie Jugendarbeit – teilzunehmen.
Der DBJR lehnt die von der Bundesregierung zunächst vorgelegten Pläne zur Einführung sogenannter Bildungsgutscheine ab. Der DBJR sieht darin keine adäquate Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils, Bildungsausgaben der Kinder stärker zu berücksichtigen und damit mehr Chancengerechtigkeit zu erzielen. Das zunächst vorgestellte Verfahren, nach individueller Bedarfsprüfung Bildungsgutscheine über die Job-Center auszugeben, muss abgelehnt werden. Die aktuellen Änderungen im Gesetzesentwurf der Bundesarbeitsministerin, wonach nun auch Kommunen anstelle der Jobcenter dies umsetzen können, ist ein Schritt in die richtige Richtung.
- Es ist systematisch gesehen äußerst problematisch, wenn jetzt der Anschein erzeugt wird, als könnte die Teilhabe an Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit in irgendeiner Weise durch einen Zehn-Euro-Gutschein sachgerecht ergänzt bzw. ersetzt werden. Zum einen entspricht der im Entwurf festgelegte Bedarf in Höhe von zehn Euro monatlich für Mitgliedsbeiträge in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Geselligkeit, Musikunterricht, vergleichbare Kurse der kulturellen Bildung oder die Teilnahme an Freizeiten nicht ansatzweise den tatsächlich individuell anfallenden Kosten, (wie z. B. monatlicher Beitrag für Sportverein, Musikstunden) und dem finanziellen Bedarf für die oben dargestellten Möglichkeiten an einer gesellschaftlichen Teilhabe. Zum anderen kann dieser Gutschein in Regionen, in denen keine Angebote bestehen, auch nicht eingelöst werden. Sachgerecht ist nur der Ausbau sozialer Infrastruktur, der nicht über das SGB II gestaltet werden kann, und der zuverlässige Abbau von Hürden zur Teilhabe an diesen Angeboten. Zudem ist zu befürchten, dass bereits vorhandene Kostenerstattungen auf kommunaler Ebene mit den Bildungsgutscheinen verrechnet werden und auf diese Weise kein Mehrwert für Kinder und Jugendliche bleibt.
- Der Aufbau zusätzlicher bürokratischer Strukturen, wie sie zunächst im Referentenentwurf vorgesehen waren, ist nicht praktikabel. Die aktuellen Änderungen im Gesetzesentwurf des Bundesarbeitsministeriums, wonach die staatlichen Zuschüsse per Direktüberweisung an Bildungsträger und Vereine ausgezahlt werden können, werden seitens des DBJR begrüßt, wenngleich noch viele Fragen des Verfahrens ungeklärt sind. Der DBJR setzt sich dafür ein, dass die Zuweisung der staatlichen Zuschüsse über die Kommunen erfolgen soll und die Zuwendung an alle anerkannten Träger der freien Jugendhilfe erfolgen kann.
- Die Lernförderung (z. B. Nachhilfe) soll nach dem Referentenentwurf vorübergehende Lernschwächen beheben. Sie wird allerdings nur in eingeschränkten Fällen anerkannt, in denen das wesentliche Lernziel nicht erreicht wird, d.h. nur bei einer Versetzungsgefährdung soll Lernförderung gewährt werden. Zudem ist diese Unterstützung extra zu beantragen und ggf. von den Jobcentern zu bewilligen. Dies ist aus Sicht des DBJR sowohl von der Ausrichtung als auch vom Beantragungsverfahren her völlig unzureichend.
Der DBJR widerspricht der in der öffentlichen Debatte der letzten Jahre immer häufiger wiederholten Diffamierung von Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern als „faul“ oder „arbeitsunwillig“. Unhaltbar ist auch die pauschale Aussage, Eltern würden die für ihre Kinder vorgesehenen Leistungen „verprassen“, wenn diese nicht in Form von Sachleistungen gewährt würden. Richtig ist, dass es keine Kinder erster und zweiter Klasse geben darf. Deshalb spricht sich der DBJR für das Recht auf eine soziale Grundsicherung aus, ohne dabei die schwierige Lebenssituation der Menschen zu übersehen, deren Einkommen geringfügig über den ALG-II-Regelsätzen liegt. Diese muss sowohl durch finanzielle Zuwendungen als auch durch den Ausbau sozialer Infrastruktur bedarfsgerecht ausgestaltet sein.
Der DBJR fordert:
- Es sind zukünftig Regelsätze für Kinder und Jugendliche zu ermitteln, die am tatsächlichen Bedarf orientiert sind und nicht aus einer prozentualen Verringerung der Regelsätze für Erwachsene ermittelt werden.
- Chancengerechtigkeit durch Teilhabe an formaler Bildung kann nur durch eine Veränderung des Schulsystems befördert werden. Dieses muss den Anforderungen einer offenen, pluralen, aufgeklärten Gesellschaft gerecht werden und sich der stärkeren individuellen Förderung und vor allem der Sorge für bildungsbenachteiligte junge Menschen widmen. Die Schule muss das erfolgreich vermitteln, was sie für das Vorrücken oder die Abschlüsse prüft. Nachhilfe ist keine Lösung für das Bildungssystem, sondern das Bildungssystem muss dies selbst leisten. Die dennoch oftmals notwendige Unterstützung durch eine gezielte Lern- und Nachhilfe muss allen Kindern und Jugendlichen offen stehen und darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein. Deshalb fordert der DBJR weiterhin einen massiven Ausbau der Bildungsinfrastruktur, das bedeutet insbesondere den Ausbau der Tagesbetreuung, der individuellen Förderung an Schulen und den Ausbau der außerschulischen Jugendbildung.
- Die finanzielle Ausstattung der Kommunen zur Bereitstellung vielfältiger sozialer und kultureller Einrichtungen ist als Bestandteil einer zukunftsorientierten Sozialpolitik der Bundesregierung zu sichern.
Von der 83. Vollversammlung am 29./30. Oktober 2010 in Berlin mit zwei Enthaltungen beschlossen.