Europapolitik

Mehr Europa wagen

Die DBJR-Vollversammlung hat am 26./27. Oktober 2012 die Position „Mehr Europa wagen Europäische Neuorientierung ist notwendig!“ beschlossen:

Die EU in der Krise?

Die Europäische Union (EU) steht aktuell – ausgelöst durch die Staatsschulden- und Bankenkrise – vor historischen Herausforderungen und Entscheidungen. Entscheidungen auf Krisengipfeln sorgen nur für kurzfristig gültige Handlungsoptionen. Sie zeigen keine Perspektiven auf, wie die EU dauerhaft als Gemeinschaft der europäischen Bürger_innen bestehen und sich entwickeln kann. Es wird zudem versäumt, die komplexen Krisenlösungsmechanismen ausreichend zu erklären und Transparenz über Entscheidungsprozesse zu schaffen. Dadurch fühlen sich europäische Bürger_innen mehr und mehr von der europäischen Idee entfremdet.

In den momentanen Wirtschafts-, Finanz-, Banken- und Staatsschuldenkrisen drohen die europäische Geschichte und die aus ihr resultierende gemeinsame Verantwortung für Demokratie, Freiheit, Solidarität und soziale Gerechtigkeit in Vergessenheit zu geraten. Daher ist es notwendig, dass die junge Generation die politischen Entscheider_innen an die Grundsätze der europäischen Einigung erinnert, die ein Versprechen an die Bürger_innen Europas waren, sind und bleiben müssen: Die EU ist mehr als nur ein gemeinsamer Markt der 27, in dem 17 Mitglieder eine gemeinsame Währung eingeführt haben.

Die EU ist ein Garant der Völkerverständigung und hat ihren Mitgliedsstaaten eine nie zuvor da gewesene Periode des Friedens und Wohlstands geschenkt. Die Idee Europa steht für Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte, Toleranz, regionale Vielfalt, Solidarität, Gerechtigkeit und die Tradition des Sozialstaates. Als Wertegemeinschaft bleibt die EU trotz Europäischer Grundrechte-Charta jedoch farblos und gerät regelmäßig zwischen die Mahlsteine von parteipolitischem Kalkül, Populismus, Nationalismus, Bürokratie, Technokratie, Intransparenz und Wettbewerbsdenken. Die Bewältigung drängender politischer, sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Probleme, die nur durch ein gemeinsames europäisches Ethos erreicht werden kann, rückt dabei in immer weitere Ferne.

Eine Versachlichung und Neuorientierung der europapolitischen Debatte ist daher dringend notwendig, vor allem in Deutschland. Zugleich müssen undemokratische Fehlentwicklungen (z. B. fehlende Bürger_innennähe) korrigiert und die schleichende Aushöhlung erfolgreicher Integrationsschritte (z. B. im Bereich der Freizügigkeit) und gemeinsamer Werte (siehe Ungarn und Rumänien) unterbunden werden.

„Ja!“ zum europäischen Projekt und zu mehr Integration

Gerade in Zeiten der Krise bekennt sich der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) zur EU und ruft dazu auf, die Errungenschaften europäischer Integration in den Fokus zu rücken[1]. An sie sollte angeknüpft werden, wobei vor allem der politische und gesellschaftliche Einigungsprozess vorangetrieben werden muss. Es muss deutlich werden, dass die wirtschaftliche Abwertung Europas durch Ratingagenturen keineswegs die Abwertung des ganzen europäischen Projekts bedeutet, sondern – im Gegenteil – nur durch mehr Europa beantwortet werden kann. Europa muss von den Chancen her gedacht werden: Die politischen Verantwortungsträger_innen müssen ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen und den Prozess einer vertieften Einigung im Dialog mit den Bürger_innen vorantreiben. Daneben liegt es in der Verantwortung der zivilgesellschaftlichen Akteure und der Bürger_innen, Europa aktiv mitzugestalten.

Die EU gehört zur Lebensrealität von Jugendlichen. Sie steht für ein friedliches, geeintes, demokratisches und soziales Europa. Jugendliche wollen nicht zurück zu einer schwachen europäischen Gemeinschaft oder zu einem Europa der Nationalstaaten. Nationalstaatlich orientierte Politik ist keine Zukunftsoption; sie war immer Nährboden für Ausgrenzung, Nationalismus und Krieg und löst auch die wirtschaftlichen Probleme nicht. Die europäische Integration hat auf die zivilisatorischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts eine mutige, visionäre und wirksame Antwort gefunden und ist damit zur Grundlage für ein neues, werteorientiertes Miteinander der europäischen Völker geworden. Daran gilt es heute anzuknüpfen.

Der DBJR und seine Mitgliedsorganisationen sprechen sich dafür aus, den Diskurs über die Zukunft der EU nicht nur an wirtschafts- und währungspolitischen Themen auszurichten. Europa kann mehr und braucht mehr. Um seine Potenziale auszuspielen, müssen die demokratischen Institutionen gestärkt werden. Dazu muss das Europäische Parlament zu einem echten legislativen Organ ausgebaut werden.

Über diese strukturelle Veränderung hinaus gibt es auch in folgenden Politikbereichen die dringende Notwendigkeit einer intensiveren Zusammenarbeit und gemeinsamer Lösungen:

  • demokratische (Weiter-)Entwicklung der EU und Stärkung der supranationalen Ebene, u.a. durch Ausstattung des Europäischen Parlaments mit einem echten Initiativrecht;
  • Schaffung eines Europas der Bürger_innen durch verbesserte Partizipationsmöglichkeiten und transparentere Entscheidungsverfahren, Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit mit transnationalen Medien;
  • Stärkung des sozialen Zusammenhalts und der Chancengerechtigkeit innerhalb der EU, insbesondere durch Armutsbekämpfung und Maßnahmen gegen die wachsende Ungleichverteilung des Wohlstandes in und zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten;
  • Sicherstellung eines solidarischen, gerechten Europas, besonders im Hinblick auf eine humane Migrations- und Asylpolitik, Handels- und Agrarpolitik und die Entwicklung einer friedensorientierten EU-Außenpolitik;
  • ernsthafte, verantwortungsvolle Beschäftigung mit Fragen der Ökologie und Nachhaltigkeit.

Im Zentrum der Krise: die Jugend Europas

In der EU leben derzeit etwa 138 Millionen junge Menschen unter 24 Jahren, denen die europäische Integration besondere Entwicklungschancen bietet. Diese Möglichkeiten sind jedoch aktuell bedroht – und mit ihnen eine EU, die von diesen jungen Menschen zukünftig gelebt und gestaltet werden soll. Kinder und Jugendliche sind von den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise besonders stark betroffen und speziellen Risiken ausgesetzt. Alarmierend ist die Situation der jungen Generation besonders in Südeuropa: Jugendarbeitslosigkeitsquoten von über 50 Prozent und die damit einhergehende Zerstörung von Zukunftsperspektiven sind unerträglich. Die Jugendproteste in Spanien, Griechenland und Frankreich haben aufgezeigt, mit welcher Perspektivlosigkeit die Jugend in diesen Ländern zu kämpfen hat. Dieser Trend muss umgekehrt werden, damit Jugendliche eine neue Perspektive in einem vereinten Europa erhalten. Politische Entscheidungsträger_ innen in ganz Europa müssen sich darüber bewusst werden, dass die derzeitigen Debatten und Entscheidungen über die Ausgestaltung der EU die Jugend in allen Ländern Europas zutiefst betreffen – und ihre Bedürfnisse und Forderungen deshalb besonders ernst genommen werden müssen.

Um junge Menschen für das Europa von heute und morgen zu gewinnen, braucht es:

  • Programme, Maßnahmen und Finanzen, die der rasant steigenden Jugendarbeitslosigkeit – besonders in Südeuropa – entgegenwirken;
  • einen Stopp des Abbaus von Jugendstrukturen (z. B. in den baltischen Ländern) und die Sicherung des Erhalts von nationalen und internationalen Jugendstrukturen;
  • die konsequente Umsetzung der EU-Jugendstrategie und des Strukturierten Dialogs mit der Jugend sowie deren Unterstützung mit ausreichenden Ressourcen;
  • die Begegnung und den Austausch von (jungen) Menschen – nicht nur mit dem Fokus auf ihre Beschäftigungsfähigkeit;
  • mehr Initiativen und Versuche, breite (junge) Bevölkerungsschichten zu erreichen und frühzeitig in das europäische Projekt einzubinden, statt starkem Elitenfokus;
  • eine Politik der nachhaltigen Entwicklung, die darauf ausgerichtet ist, die Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen in allen Politikbereichen der EU zu sichern.

Der Beitrag des DBJR zur Lösung der Krise

Der DBJR wird daher:

  • seine 2006 formulierten und 2009 erweiterten Umsetzungsvorschläge bis zur nächsten Vollversammlung 2013 kritisch überprüfen und weiter verfolgen sowie seine Positionierungen zu einzelnen Feldern weiterentwickeln;
  • Europawahlen für Aktivitäten nutzen und Mitgliedsorganisationen zur Beteiligung aufrufen;
  • dabei insbesondere die Europawahlen im Frühjahr 2014 als Chance für ein Bekenntnis zur europäischen Idee wahrnehmen und als Plattform zur konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung mit dem Status quo der europäischen Integration sowie als Gelegenheit zur Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments als Vertretung der europäischen Bürger_innen nutzen;
  • durch Fachkonferenzen zur Auseinandersetzung mit europapolitischen Themen (mit jugendpolitischer Dimension) anregen;
  • im Rahmen des Deutschen Nationalkomitees für internationale Jugendarbeit (DNK), des Europäischen Jugendforums sowie anderer europäischer Partnerstrukturen konkret an der Ausgestaltung europapolitischer Integration auf Jugendebene mitwirken;
  • sich an (relevanten) europäischen Bürgerinitiativen beteiligen;
  • sich aktiv in eine wiederbelebte Verfassungsdebatte einbringen;
  • die Begegnung und den Austausch von (jungen) Menschen ermöglichen und fördern;
  • weiterhin Jugendliche für die Bedeutung der europäischen Integration sensibilisieren und gleichzeitig den Gestaltungsvorschlägen junger Menschen in Hinblick auf Europathemen Gehör verschaffen, um so selbst einen Beitrag zum Europa der Bürger_innen zu leisten.

Die Mitgliedsorganisationen des DBJR sollten für den Erhalt und die Weiterentwicklung der europäischen Einigung diesen Prozess aktiv unterstützen.

Von der 85. Vollversammlung am 26.|27.10.2012 in Berlin einstimmig bei zwei Enthaltungen beschlossen.

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[1] Dieser Thematik hat sich der DBJR bereits in seinem 2005 verabschiedeten Perspektivpapier zur europäischen Jugendpolitik gewidmet.

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