Demokratie

Professor Klaus Hurrelmann zu #wahlaltersenken

Professor Dr. Klaus Hurrelmann, Herausgeber zahlreicher Jugendstudien und Dozent an der Hertie School of Governance, fordert seit vielen Jahren, das Wahlalter zu senken. Wir wollen das ebenfalls und haben deswegen mit ihm über Kritik an unserer Forderung nach einer Wahlaltersenkung gesprochen sowie über die Chancen für eine Politisierung junger Menschen.

Kritiker*innen befürchten, dass mit einer Absenkung des Wahlalters eine Entwertung des Wahlrechts einhergeht. Was sagen Sie zu diesem Einwand? 

Ich würde eher das Gegenteil erwarten. Wenn das Wahlalter gesenkt wird, dann wird allen Menschen bewusst: Wir müssen darüber nachdenken, was eigentlich die Voraussetzungen für das Recht sind, an einer Wahl teilzunehmen. Die Diskussion richtet sich dann auf das wirklich Wesentliche: Es kommt darauf an, dass ein Mensch in der Lage ist, einzuschätzen, was zur Wahl steht; also welche Kandidatinnen und Kandidaten mit ihren Auffassungen – die in der Regel bestimmten Parteien mit deren Auffassungen und Programmen zugeordnet sind. 

Wenn ich glaube, ich müsste die Parteiprogramme alle kennen, ich müsste mich sehr genau bis ins Detail informieren über die Positionen in den einzelnen politischen Feldern, dann ist das eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Aber so geht der Großteil der Wählerinnen und Wähler – um die 90 Prozent – überhaupt nicht an eine Wahl heran. Die Menschen gehen an eine Wahl mit ihren persönlichen Einschätzungen und Präferenzen. Sie nehmen eine pauschale Bewertung vor und bilden sich ein pauschales Urteil. Das kann man schon im Alter von unter 18 Jahren. 

Als Wählerin und Wähler muss ich abschätzen: Welche Alternativen und Positionen werden vorgetragen? Zu welcher neige ich? Wie verhalte ich mich entsprechend bei der Abgabe meiner Stimme? Das ist eine überschaubare Herausforderung. Es ist eine Anforderung an die Wahrnehmung, an den Intellekt, an das Urteilsvermögen. Ich würde sagen: Beim insgesamt sehr guten Bildungsstand, bei der Beschleunigung der Entwicklung durch verschiedenste Faktoren – auch durch den Zugang zu Medien schon im jungen Alter – ist das heute ab dem 12. Lebensjahr möglich. Wenn ich also ganz frei nur nach diesem fachlichen Kriterium entscheiden könnte, würde ich mit Fug und Recht sagen: Das Wahlalter sollte auf das 12. Lebensjahr gesenkt werden. 

Wir sprechen jetzt vom aktiven Wahlrecht. Beim passiven Wahlrecht, also sich wählen lassen und als Kandidatin oder Kandidat auftreten, gelten noch ein paar andere Spielregeln. Beim Wahlvorgang, bei dem Wählerinnen und Wähler bestimmen, wie sich Parlamente zusammensetzen, würde ich das aktive Wahlrecht ab dem 12. Lebensjahr empfehlen. 

 

Kritiker*innen sagen auch, gerade junge Menschen seien sehr beeinflussbar durch Eltern, Lehrer*innen, Medien, Freund*innen. Wie sehen Sie das? 

Das stimmt. Natürlich ist man im Alter von 12 Jahren, wenn ich mal bei dieser von mir favorisierten Alterssschwelle bleibe, ein Mensch, der kurz vor oder nach der Pubertät steht. Die persönliche Entwicklung zeigt eine starke Dynamik. Ich befinde mich körperlich, psychisch und damit auch intellektuell in einer erheblichen Umwälzungssituation. Das bedeutet: Ich bin darauf angewiesen, dass ich vor allem durch meine Eltern mit Rat und Tat unterstützt werde. Das gilt auch für politische Fragen. Und selbstverständlich gilt das dann auch für die Wahlentscheidung. Diese werde ich mit anderen diskutieren. 

Wir wissen aus Untersuchungen, dass tatsächlich der Einfluss der Eltern auf die Wahlentscheidung der Kinder groß ist. Er liegt nicht – wie viele meinen – bei 100 Prozent. Er liegt so ungefähr bei 50 Prozent. In der Hälfte der Fälle entscheiden sich die Kinder genau für die Wahlpräferenz, die auch bei den Eltern vorherrscht. In der zweiten Hälfte der Fälle nicht. Wenn wir genauer hinschauen, sind auch andere Abhängigkeiten in anderen Alters- und Beziehungskonstellationen auffällig. Partner, vor allem auch Ehepartner, wählen sehr häufig identisch. Sie beeinflussen sich gegenseitig. Menschen aus gleichen Berufsgruppen wählen häufig identisch. Es ist also nicht weiter überraschend, dass sich in einer bestimmten Lebenskonstellation mit bestimmten Netzwerken, Freundinnen und Freunden, Partnerinnen und Partnern auch das Wahlverhalten angleicht. 

Insofern würde ich das völlig undramatisch sehen. Wenn Kinder und Jugendliche tatsächlich etwa zur Hälfte so wählen, wie ihre Eltern, ist das ein ganz normaler Vorgang. Der hat nichts damit zu tun, dass ihr Votum nicht unabhängig ist. Sondern er hat damit zu tun, dass sie die Überzeugung haben, die Voten ihrer Eltern seien gut und nachvollziehbar. Hier eine Abhängigkeit hinein zu interpretieren, halte ich für abwegig. 

Es liegt in der Natur des Wahlvorganges, dass ich mich absichere, dass ich mich anschließe an andere Meinungen. Das ist ein unvermeidlicher und ganz natürlicher Prozess. Deswegen kann man auch die Kritikerinnen und Kritiker fragen: Was gibt es denn für Alternativen dazu, dass es starke Überschneidungen gibt zwischen dem Wahlverhalten von Menschen, die sich nahestehen? 

Übrigens, nicht zu vergessen: Oft beeinflussen auch – gerade jetzt ganz aktuell – Kinder und Jugendliche das Wahlverhalten ihrer Eltern. Wenn sie sich gerade für das Thema Umwelt sehr stark machen, dann werden sie auch auf ihre Eltern Einfluss nehmen. Das wissen wir aus Untersuchungen. 

 

Gehen Sie davon aus, dass das politische Interesse der jungen Menschen zunimmt, wenn Kinder und Jugendliche ab 12 wählen könnten? 

Alles deutet darauf hin. In dem Moment, in dem ich in der Lage bin, mich an einer Wahl zu beteiligen, fange ich an, mich stärker zu interessieren. Ich weiß ja: Es wird eine Entscheidung von mir verlangt, ich muss mich informieren. Wir haben konkrete Hinweise darauf bei der Kinder- und Jugendwahl U18 oder bei der Juniorwahl. An beiden können heute schon junge Leute unterhalb des rechtlichen Mindestwahlalters kurz vor den offiziellen Wahlen teilnehmen. Alle Untersuchungen zeigen genau diesen erwähnten Effekt: Allein die Teilnahme an einer solchen Wahl steigert das Interesse an Politik, an politischen Fragen, daran, welche Positionen welche Parteien vertreten. Ein Aktivierungseffekt ist eindeutig vorhanden. 

Umgekehrt ist aber genauso wichtig: Wenn die Parteien wissen, dass die unter 18-Jährigen sich an der Wahl beteiligen, dann werden sie zwangsläufig anfangen, sich um deren Themen zu kümmern und sich auf deren Interessen, Fragen und Bedürfnisse einlassen. Das wiederum hat dann einen stimulierenden und sich gegenseitig aktivierenden Effekt. 

Also ganz klar: Eine Absenkung des Wahlalters würde das politische Interesse sowohl der Neuwählerinnen und Neuwähler als auch der Parteien deutlich beeinflussen. 

 

Um unsere und Ihre These noch einmal zu stärken: Wenn junge Menschen unter 18 wählen dürfen, dann werden sie auch politisch ernster genommen?

Ganz genau. Wir wissen zusätzlich aus Untersuchungen, dass nicht nur dadurch politisches Interesse stimuliert wird. Es hängt auch von den Lebensbedingungen ab. Es ist noch etwas unklar, woran es liegt, dass derzeit die unter 20-Jährigen ein deutlich höheres politisches Interesse haben als die Älteren. Meine persönliche Vermutung ist, dass wir es hier mit folgendem Einflussfaktor zu tun haben, nämlich der beruflichen und damit wirtschaftlichen Perspektive der Absicherung. 

Es sind die über 20-Jährigen, die in einer deutlichen Unsicherheitsphase ihre Jugendzeit verbracht haben und es noch gar nicht richtig glauben können, dass sie nun eine echte Chance für ihre berufliche Perspektive haben. Denn sie sind aufgewachsen in Zeiten, in denen das sehr unsicher war – auch hier in Deutschland. In anderen europäischen Ländern ist bis heute die Jugendarbeitslosigkeit sehr hoch. Die Unsicherheit drückt auf das politische Interesse und die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren. Sie drosselt die politische Motivation, weil man sich sehr stark erst einmal um die wirtschaftliche Existenzsicherung kümmern muss und darum, ob man einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz bekommt. 

Das fällt für die jungen Leute unter 20 weg. Meine persönliche Vermutung ist, dass dies der Hauptfaktor dafür ist, was wir gerade erleben: ein besonders deutliches politisches Interesse in den jungen Generationen. Es scheint vielen ganz plötzlich zu kommen. Aber in Jugendstudien konnten wir schon erkennen, dass etwa seit 2003/2004 das politische Interesse deutlich und kontinuierlich nach oben gegangen ist. 

Wenn in einer solchen Konstellation jetzt auch noch das Mindestwahlalter abgesenkt würde, dann hätten wir bei der heute jungen Generation tatsächlich einen erheblichen politischen Motivationsschub.

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