Jugendarbeit

Stellungnahme zum Entwurf des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes

Der DBJR-Vorstand hat am 25. Oktober 2020 die folgende Stellungnahme zum Referent*innenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG) beschlossen:

Wir, der Deutsche Bundesjugendring (DBJR), nehmen zum vorliegenden Gesetzentwurf sowohl aus Sicht von jungen Menschen als auch der Kinder- und Jugendarbeit und insbesondere der Jugendverbandsarbeit zu ausgewählten Punkten des Entwurfs Stellung. Bei unkommentierten Punkten des Entwurfs kann nicht automatisch von einer Zustimmung ausgegangen werden.

Wir begrüßen diesen Entwurf als wichtigen Schritt in Richtung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe und auf dem Weg zur sogenannten Inklusive Lösung. Die Übergangsfrist von sieben Jahren in einem dreistufigen Verfahren hierfür erscheint uns mit Blick auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern recht lang und ein schnelleres Verfahren wäre wünschenswert. Gleichzeitig erkennen wir an, dass die noch offenen notwendigen Klärungen und Vorbereitungen zeitliche Ressourcen für die Neuausrichtung brauchen.

Ebenso begrüßen wir, dass die Subjektstellung der Kinder und Jugendlichen in der Kinder- und Jugendhilfe gestärkt wird.

Zu den einzelnen Regelungen:

zu Artikel 1 – Änderung des SGB VIII

zu Nummer 2 (§ 1)

Wir begrüßen, dass die Selbstbestimmung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in das programmatische Leitbild der Kinder- und Jugendhilfe aufgenommen werden soll, ebenso die Erweiterung der Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe darum, es „jungen Menschen ermöglichen oder erleichtern, entsprechend ihres Alters und ihrer individuellen Fähigkeiten in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu interagieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können“. Den damit verbundenen inklusiven Ansatz begrüßen wir ebenfalls ausdrücklich und bedauern gleichzeitig, dass er in den folgenden Regeln nicht konsequent durchgehalten wurde.

zu den Nummern 4 und 5 (§§ 4 und neuer 4a)

Wir begrüßen, dass mit diesen Regelungen das Ziel, noch stärker als bisher Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe gleichberechtigt und konsequent an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, deutlich gestärkt wird. Wir teilen ausdrücklich die Einschätzung, dass „selbstorganisierte Zusammenschlüsse […] diese Beteiligung und die diesbezügliche Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe ganz maßgeblich befördern [können].“[1]

Die damit angestrebte Stärkung der Selbstvertretungsorganisationen durch eine explizite Regelung zur Förderung und zur Zusammenarbeit mit der öffentlichen und freien Jugendhilfe kann auch die Selbstvertretungen junger Menschen mit Behinderungen bzw. ihrer Angehörigen im Prozess der Interessinklusiven Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe stärken.

Als unglücklich bewerten wir, dass es durch die Verwendung der Begrifflichkeit „selbstorganisierte Zusammenschlüsse“ zu Missverständnissen kommen kann, da diese in anderen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe bzw. dieses Buches anders besetzt sind (siehe z.B. die §§ 11, 12). Wir empfehlen hier die ausschließliche Verwendung des Begriffes „Selbstvertretung“ bzw. „Selbstvertretungszusammenschlüsse“.

Auch sehen wir die Gefahr, dass durch die sehr weite und offene Formulierung des § 4a der eigentliche Fokus aus dem Blick verloren wird und er pauschal für die Unterstützung von allen möglichen Interessvertretungen junger Menschen und damit v.a. auch außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe herangezogen werden kann. In diesem Paragrafen sollte der Fokus v.a. auf der Selbstvertretung innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe liegen. Die Förderung von (selbstorganisierten) Jugendgruppen und –verbänden sowie ihren Zusammenschlüssen ist darüber hinaus in § 12 geregelt. Wir regen daher eine entsprechende Schärfung der Formulierung oder den konkreten Bezug in §4 Absatz 2 und 3 auf den Absatz 1 an sowie eine Evaluation der Wirkungen des Paragrafen nach einer angemessenen Zeit.

zu Nummer 6 (§ 8)

Wir begrüßen sehr, dass die Bedingung für den elternunabhängigen Beratungsanspruch gestrichen werden soll. Wir fordern dies seit dessen Einführung.

Wir begrüßen die Konkretisierung im neuen Absatz 4 („Beteiligung und Beratung von Kindern und Jugendlichen nach diesem Buch erfolgen in einer für sie wahrnehmbaren Form“) und die damit verbundene Zielstellung.

zu Nummer 10 (neuer § 9a)

Die verbindliche Einführung von Ombudsstellen begrüßen wir und regen an, dass deren Unabhängigkeit durch eine entsprechende Formulierung des Paragrafen gesetzlich deutlicher gesichert werden sollte. Im Übrigen schließen wir uns zu diesem Punkt der Stellungnahme der AGJ an.

zu Nummer 12 (neuer § 10a)

Wir begrüßen die Verankerung eines umfassenden Beratungsauftrags.

zu Nummer 14 (§ 11)

Wir begrüßen die mit der vorgesehenen Ergänzung verbundene Zielsetzung, „dass die Angebote der Jugendarbeit in der Regel für junge Menschen mit Behinderungen zugänglich und nutzbar sein müssen.“[2] Diese Verpflichtung lesen wir jedoch auch aus der bisherigen Formulierung des § 11 heraus „Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen.“, die weder eine Begrenzung auf eine bestimmt Gruppe junger Menschen beinhaltet noch den Ausschluss bestimmter junger Menschen. Auf dieser Basis ist die gewählte Formulierung eine Engführung des Gedankens der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe, da sie nur auf junge Menschen mit Behinderungen abstellt.

Gleichwohl sehen auch wir den konkreten Handlungsbedarf auch bzw. insbesondere für junge Menschen mit Behinderung. Dabei sehen wir in der gewählten Formulierung jedoch die Gefahr, dass nicht klar genug zum Ausdruck kommt, dass nicht jedes Angebot in seiner konzeptionellen Ausrichtung für alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen geöffnet sein kann, v.a. wenn die Gesetzesbegründung dazu aus dem Blick gerät ("in der Regel", "grundsätzlich").

Konkret sehen wir u.a. folgende Risiken, die wir bitten durch eine Anpassung der Formulierung und/oder eine entsprechende Erweiterung der Gesetzesbegründung zu minimieren.

  • Auch wenn es u.a. durch § 3 (2) Satz 2 eindeutig geregelt ist, soll deutlich gemacht werden, dass sich auch diese Verpflichtung zu allererst an die Träger der öffentlichen Jugendhilfe richtet und ihre Erfüllung durch diese in Wahrnahme ihrer Gesamtverantwortung durch entsprechende Planungsprozesse im Rahmen der Jugendhilfeplanung und die Schaffung entsprechender finanzieller Voraussetzungen zu ermöglichen ist. Wir sehen hier die Gefahr, dass vielerorts dieser Grundsatz nur formal als konkrete Förderauflage oder Nebenbestimmung in die Förderrichtlinien oder gar die einzelnen Förderbescheide übertragen wird, ohne dass die Voraussetzungen für seine Umsetzung gegeben sind. So ist eine angemessene Umsetzung ohne Anpassung der Fördersätze kaum möglich.
  • Damit verbunden sehen wir die Gefahr, dass es zu einer Einschränkung der Palette der Angebote und Maßnahmen der Kinder- und Jugendarbeit auf solche kommt, die weitgehend inklusiv gestaltbar sind.
  • Wir sehen ebenfalls die Gefahr, dass Maßnahmen verhindert werden, die aus anderen Gründen nicht gewollt sind, in dem auf eine nicht ausreichende Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Angebote für junge Menschen mit Behinderungen verwiesen wird.
  • Letztendlich muss vermieden werden, dass in Umsetzung dieses Grundsatzes andere Gruppen junger Menschen, denen der Zugang zu Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit erschwert ist, aus den Blick geraten oder gar benachteiligt werden. Sonst führt die explizite Benennung bestimmter Kategorien und z.B. die Nichtnennung sozialer Benachteiligung gegebenenfalls zur Vernachlässigung sozialer Ungleichheit.

Weiterhin muss in der Praxis darauf geachtet werden, dass bei Fragen der Finanzierung und bei Förderung nur die Kosten für die notwendigen Investitionen v.a. baulichen Maßnahmen in den Blick genommen werden. Viel schwerer wiegen aus unserer Sicht und unseren Erfahrungen, die immer wiederkehrenden Kosten für laufenden Maßnahmen wie für erhöhte Mobilitätskosten oder z.B. die Kosten für Gebärdendolmetscher*innen, wie sie z.B. bei Angeboten der Jugendbildung anfallen.

Aus unserer Sicht wird es auch zukünftig - trotz großer Anstrengungen aller Beteiligten - nicht möglich sein, dass alle entsprechenden Kosten systemisch durch die Kinder- und Jugendhilfe getragen werden können. Es wird immer Kosten für die individuelle Teilhabe geben, die von den Reha-Trägern bzw. im Rahmen der Eingliederungshilfe getragen werden müssen. Hierfür muss gerade für die Übergangszeit eine unbürokratische Lösung gefunden werden, die auch berücksichtigt, dass die Verantwortlichen und Organisatoren vieler Maßnahmen der Kinder- und Jugendarbeit ehrenamtliche junge Menschen sind.

Wir wollen insgesamt auch nicht unsere Irritation darüber verschweigen, dass offenbar vor allem § 11 die Notwendigkeit einer solchen Erweiterung gesehen wurde.

Abschließend regen wir an zu prüfen, das Inkrafttreten dieser Regelung auf die „zweite Stufe“, also zum 01.01.2024 zu verschieben. Damit haben die öffentlichen wie die freien Träger der Jugendhilfe Zeit, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen durch Anpassungen der Jugendhilfeplanungen, Berücksichtigung bei den Haushaltsaufstellungen, Beratungen in den AGs nach § 78 sowie Anpassungen der Konzepte und Durchführung baulicher Maßnahmen sowie ggf. Beschaffungen. Andernfalls sehen wir die Gefahr, dass es mit Inkrafttreten nicht sofort zu merkbaren Verbesserungen kommt bzw. kommen kann und in der Folge ein „Gewöhnungseffekt“ einsetzt, der die neue Regelung ins Leere laufen lässt.

zu den Nummern 28 und 29 (§§ 41 und neuer 41a)

Wir begrüßen, dass damit diesen Regelungen eine Verbesserung für junge Volljährige erreicht wird. Aus unserer Sicht sind damit jedoch noch nicht die notwendigen Erwartungen und viele Bedarfe der betroffenen jungen Menschen erfüllt. Vor allem die Altersgrenze von 21 Jahren ist nach wie vor zu niedrig. Junge Menschen, die bei ihren Eltern aufwachsen, bleiben durchschnittlich bis zum 23. Lebensjahr bei den Eltern wohnhaft.

zu Nummer 33 ( neuer § 45a)

Die mit einer Legaldefinition von Einrichtungen in der Kinder- und Jugendhilfe geschaffen Verbesserung der Rechtssicherheit begrüßen wir. Perspektivisch ist in Folge bei weiteren gesetzlichen Neuregelungen besonders auf die korrekte Adressierung der Einrichtungen zu achten und klar zu benennen, ob pauschal Einrichtungen (der Kinder- und Jugendhilfe) entsprechen des neuen § 45a adressiert werden sollen, die dann auch viele Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit umfassen würden oder nur erlaubnispflichte Einrichtungen nach §45, die durch die formulieren Ausnahmen [3] Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit i.d.R. nicht umfassen.

Ergänzend regen wir an, § 45 (1) Punkt 1 durch die Formulierungen „Einrichtungen i.S. § 11“ zu ergänzen oder zu konkretisieren.

zu Nummer 39 (§ 71)

Die Regelung ist im Zusammenhang mit dem neuen § 4a folgerichtig und wird daher begrüßt

zu Nummer 40 (§ 72a)

Die Ergänzung der Liste der einschlägigen Straftaten ist aus unserer Sicht folgerichtig und damit zu akzeptzieren. Die Konkretisierungen zum Datenschutz in Absatz 5 stellt eine Verbesserung bzw. höhere Rechtssicherheit in der Handhabung dar.

Gleichwohl sehen wir sehr kritisch, dass auch mit diesem Entwurf erneut die Chance vertan wird, das Instrument des Erweiterten Führungszeugnisses durch eine unbürokratischere und effizientere Lösung auf gleichem Schutzniveau zu ersetzen und verweisen dazu auf unsere entsprechenden Stellungnahmen und Positionen.

zu Nummer 46 (§ 79a)

Die Erweiterung um Qualitätsmerkmale für die inklusive Ausrichtung der Aufgabenwahrnehmung und die Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse von jungen Menschen mit Behinderungen ist i.S. der inklusiven Ausrichtung aus unserer Sicht folgerichtig und zu begrüßen.

zu Nummer 49 (§ 83)

Die Absicht, die Bundeselternvertretung der Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege bei wesentlichen die Kindertagesbetreuung betreffenden Fragen die Möglichkeit der Beratung zu geben, ist im Interesse der Betroffenenvertretung zu begrüßen.

Wir sehen es jedoch kritisch, dass damit gerade dieser Personenkreis bzw. dieses Handlungsfeld herausgehoben wird. Auch in anderen Handlungsfeldern gibt es legitimierte Interessenvertretungen der adressierten jungen Menschen auf Bundesebene. Auch für diese sollte die Möglichkeit der Beratung gesetzlich verankert werden.

zu Nummer 54 (§ 94)

Die Senkung des Selbstbehaltes in Absatz 6 begrüßen wir ausdrücklich. Darüber hinaus empfehlen wir, zu regeln, dass sichergestellt ist, dass steuerfreie Einnahmen und Aufwandsentschädigungen aufgrund ehrenamtlicher Tätigkeiten unter Verweis auf die einschlägigen Regelungen des Einkommensteuergesetzes (EStG) vollständig von der Anrechnung ausgenommen werden und ohne jeden Abzug bei den Jugendlichen verbleiben.

Grundsätzlich sprechen wir uns darüber hinaus deutlich für den Verzicht des Selbstbehalts aus. Jenseits aller anderen Aspekte ist damit immer eine zusätzliche Schlechterstellung gegenüber jungen Menschen verbunden, die das Glück haben, bei ihren Eltern aufzuwachsen. Heutzutage ist es weitgehend unüblich, dass junge Menschen einen Teil ihres Einkommens an ihre Eltern abgeben.

zu Nummer 56 (§ 99)

Diese neuen Formulierungen in Absatz 8 entsprechen einer Anpassung an die Praxis der Statistik der Kinder- und Jugendarbeit (Geschlechterverteilung statt Geschlecht, Altersgruppen statt Alter) oder sind hilfreich (Erfassung der Verbandszugehörigkeit).
Wir hätten es sehr begrüßt, wenn es weitere Änderungen zur Verbesserung der Statistik der Kinder- und Jugendarbeit gegeben hätte, da diese sowohl bei den Auskunftspflichtigen als auch den Nutzer*innen deutlich in der Kritik steht.

Wir begrüßen in Absatz 9, dass die Erhebung der Einrichtungen auf erlaubnispflichtige nach § 45 beschränkt wird. Damit werden im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit Doppelerhebungen mit der Kinder- und Jugendarbeitsstatistik vermieden. Ebenfalls kann begrüßt werden, dass nun klargestellt ist, dass nur auf Ebene der Träger und nicht mehr der Einrichtungen erhoben wird.

zu Artikel 1 – Änderung des KKG

zu Nummer 2 (§4 bzw. §§ neue 4 und 5)

Wir können die geplante Umstellung der Reihenfolge der Regelungen, die dann der von den Adressat*innen erwarteten Handlungsreihenfolge entgegensteht, nicht nachvollziehen. Die damit verbundene besondere Betonung der Befugnis zur Information des Jugendamtes sehen wir kritisch.

Zu § 4 Abs. 4 KKG-E („Rückmeldepflicht des Jugendamtes“) verweisen wir auf die Stellungnahme der AGJ, die wir an dieser Stelle vollumfänglich teilen.

Abschlussbemerkungen

Die derzeitig besondere Situation bleibt eine anhaltende Herausforderung, die massive Auswirkungen mit sich bringt. Wir befürchten, dass durch die bisher entstandenen zeitlichen Verzögerungen die Gefahr besteht, dass der weitere Gesetzgebungsprozess in die Zeit des (Vor-)Wahlkampfs gerät.

Äußerst kritisch sehen wir weiterhin, dass die Einführung des Rechtsanspruches auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter vollkommen unabhängig von diesem Prozess läuft. Beides führt aber zu Änderungen des SGB VIII und kann wechselseitige Auswirkungen haben.

Vom Vorstand des DBJR am 25. Oktober 2020 einstimmig beschlossen.

 

[1] Referent*innen-Entwurf KJSG, Begründung Teil B zu Nr. 5 (S. 81)

[2] Referent*innen-Entwurf KJSG, Begründung Teil B zu Nr. 14 (S. 90)

[3] § 45 (1) Punkt 1 SGB VIII

Themen: Jugendarbeit