Umsetzung des Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) in den Bundesländern
Ganztagsförderung kindgerecht und gemeinsam mit der Jugendarbeit umsetzen!
Das Gesetz zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter (GaFöG) wird ab dem Schuljahr 2026/2027 schrittweise umgesetzt werden. Auch wenn die grundlegenden Rahmenbedingungen des Rechtsanspruchs auf bundesgesetzlicher Ebene im SGB VIII definiert sind, so obliegt nach Art.83 GG den Bundesländern die Ausführungskompetenz und sie sind aufgefordert, entsprechende Regelungen zu erlassen. Sowohl der Stand des Ausbaus an “Ganztagskapazitäten” als auch die angebotenen “Ganztagsformen” sind in den verschiedenen Bundesländern sehr heterogen. Dennoch gibt es aus der Sicht der Jugendarbeit zentrale Aspekte, die unabhängig davon sowohl von den Landesgesetzgebern als auch von den verantwortlichen örtlich öffentlichen Trägern angemessen zu berücksichtigen sind.
1. Ganztag muss aus der Perspektive der Kinder gedacht und geplant werden
Bereits in der Gesetzesbegründung wird deutlich, dass die inhaltliche Ausgestaltung der Ganztagesangebote nicht allein die Betreuung der Kinder zum Ziel haben kann. Als wichtige gesellschaftspolitische Ziele sind an dieser Stelle benannt: „Die Förderung der Entwicklung und Erziehung von Kindern zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten, die Förderung der Teilhabe von Kindern, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern am Erwerbsleben.“ Der Ganztag muss daher zunächst aus der Perspektive der Kinder gedacht und nach deren Bedarfen gestaltet werden.
Der Ganztag muss Kindern genügend Freiräume zur selbstbestimmten Nutzung und Ausgestaltung bieten, damit sie u. a. Freundschaften schließen und pflegen können. Für Kinder ist Schule ein wichtiger sozialer Ort, an dem sie mit Gleichaltrigen zusammenkommen und Beziehungen aufbauen können. Schule dient auch als Ausgangspunkt für Aktivitäten, Kontakte und Engagement außerhalb der Schulzeiten. Ob sich Kinder wohlfühlen, ist aus ihrer Sicht deshalb stark davon abhängig, ob sie genügend Zeit und Raum für eigene Bedürfnisse und Interessen zur Verfügung haben. Selbstbestimmte, freie Zeiten und Räume, ergänzend zu Unterricht und Betreuung und während der Schulferien, die auch Kontakte zu Kindern außerhalb der eigenen Klassen- und Schulgemeinschaft ermöglichen, sind ein wesentlicher Raum für Kinder und stärken deren Resilienz.
Pädagogische Angebote unterstützen die Selbstbestimmung der Kinder, wecken und fördern deren Kreativität und bieten auch Gelegenheiten, zur Ruhe zu kommen. Hierzu braucht es zeitliche und räumliche Voraussetzungen sowie Fachkräfte, die einschätzen können, wann Begleitung und wann Anleitung angemessen sind. Ganztagsangebote müssen pädagogisch organisierte Freiräume und Freizeitangebote vorsehen. Dies bedeutet auch spielerische, musikalische, künstlerische und sportliche Angebote nicht nur in Innenräumen vorzuhalten, sondern auch den Außenbereich sowie andere außerschulische Orte und den Sozialraum mit einzubeziehen.
2. Ganztag muss als Verantwortungsgemeinschaft im Sozialraum gestaltet werden
Der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe für die zukunftsorientierte Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern in den Grundschulen müssen sich Schule und Jugendhilfe gemeinsam mit allen beteiligten Akteuren in einer Verantwortungsgemeinschaft stellen. Außerschulische Räume sind für den Ganztag zu nutzen, Eltern werden eingebunden und die Akteure der Jugendhilfe, insbesondere auch der Jugendarbeit, werden bereits in den Planungen mit einbezogen. Hierzu braucht es geeignete und institutionalisierte Formen der Zusammenarbeit vor Ort.
3. Ganztag braucht einen klaren Qualitätsrahmen
Der Bundesgesetzgeber hat bislang darauf verzichtet, Qualitätskriterien für die ganztägige Bildung, Betreuung und Erziehung zu formulieren. Die Verankerung des GaFöG im SGB VIII hat jedoch zur Folge, dass die Grundprinzipien des SGB VIII (Schutz und Beteiligung von Kindern) zu beachten sind. Um gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland sicher zu stellen, braucht es einen von den Kultus- und Jugendminister*innen der Länder verantworteten Qualitätsrahmen, der die Prozess- und Strukturqualität von Ganztagsangeboten in den Bick nimmt. Die darin definierten (Mindest-)Standards müssen sich im Wesentlichen an den Standards der Jugendhilfe orientieren und nicht an denen der Schule. Zur Sicherstellung der Qualitätsstandards müssen entsprechende Ressourcen bereitgestellt werden.
4. Ganztag muss Kinderrechte vollumfänglich umsetzen
Als Grundrechtsträger haben Kinder Beteiligungs-, Schutz- und Förderrechte, die konsequent umgesetzt werden müssen. Die Kinder müssen an der konkreten Ausgestaltung der Ganztagsentwicklung angemessen beteiligt werden und so die sie betreffenden Entscheidungen mitgestalten können. Ein Ganztagsangebot sollte so flexibel organisiert sein, dass alle Kinder gleichberechtigt daran teilhaben können und entsprechend ihrer individuellen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bedürfnisse gefördert und unterstützt werden. Bedarfsgerechte vielfältige Ganztagsangebote gehen auf das ein, was Kinder für ihre gleichberechtigte Teilhabe benötigen. Sie bieten Freiräume und alltagsintegrierte Mitbestimmung.
5. Ganztag muss im Sinne gleichberechtigter Teilhabe gestaltet werden
Ein flächendeckendes, bedarfsgerechtes Ganztagsangebot kann ein wichtiger Schritt sein, um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik in diesem Bereich zu verbessern. Kinder leben heute in sehr unterschiedlichen sozialen Lebenslagen. Daraus ergeben sich sehr unterschiedliche Anforderungen an gleichberechtigte inklusive Bedingungen des Aufwachsens in (außer-)schulischen Angeboten. Kinder haben pädagogische Bedarfe, die partizipativ mit ihnen und ihren Eltern in außerunterrichtlichen und außerschulischen Angeboten erschlossen werden müssen. Hierfür braucht es pädagogisch sinnvolle und inklusive Räume und Ausstattung von Ganztagseinrichtungen sowie ein gesundes und kostenfreies Mittagessen für alle Kinder. Kooperationspartner müssen so unterstützt werden, dass sie Angebote ohne Zusatzkosten für die Eltern anbieten können.
6. Ganztag braucht (nicht nur) pädagogische Fachkräfte
Das im GaFöG verankerte Fachkräftegebot ist sinnvoll. Dennoch kann und soll Ganztag nicht nur von Fachkräften gestaltet werden. Angebote von außerschulischen Partner*innen müssen auch von qualifizierten Menschen im Ehrenamt oder Nebenberuf mitgestaltet werden können. Damit aus Kindersicht stabile Beziehungen entstehen können, braucht es sowohl verlässliche Lehrkräfte als auch verlässliche außerschulische Fachkräfte und Expert:innen der Jugendhilfe/Jugendarbeit. Durch vielfältige Lebensrealitäten und unterschiedliche didaktische Herangehensweisen der Mitarbeiter*innen werden Kindern vielfältige und wertvolle Möglichkeiten zu Anknüpfung, Repräsentation und Identifikation geboten.
7. Ganztagsförderung ist nicht Ganztagsschule
Die Chance des Ganztags liegt im Zusammenspiel von formaler und non-formaler Bildung; die Verortung im SGB VIII ist ernstzunehmen. Formales, non-formales und informelles Lernen werden als gleichwertig angesehen und bilden einen ganzheitlichen Bildungsansatz. Hierzu braucht es die Kooperation von Lehrkräften und Fachkräften der Jugendhilfe, die auf Augenhöhe agieren. Den Grundschulkindern müssen Räume und Freiräume zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Identitätsbildung zur Verfügung gestellt werden. Auf individuelle Unterschiede und besondere benachteiligende Faktoren sollte ausgleichend eingegangen werden. Hier braucht es gute, zum Teil individuelle Förderkonzepte, um individuelle Bildungserfolge zu ermöglichen. Alle Kinder sollen gleichermaßen an Freizeit- und Bildungsangeboten inklusive Kultur-, Musik- Sportangeboten teilhaben können, die im Rahmen des Ganztags angeboten werden. Inklusive und erzieherische Hilfsangebote sollen dabei im Ganztag integriert angeboten werden.
8. Die Ferien gehören der Jugendarbeit
In den Ferien müssen die Jugenderholungsangebote von Jugendverbänden und Jugendringen die selbstverständliche Form der Ganztagsförderung sein. Dazu brauchen Jugendverbände und Jugendringe eine angemessene finanzielle Ausstattung. Es darf keine (weitere) Konkurrenz z.B. durch kommerzielle Anbieter aufgebaut werden. Im Zuge der Umsetzung des GaFöG dürfen Ferienangebote nicht zu schulischen Veranstaltungen werden. Der Charakter der Ferien als schulfreie Zeit und das Recht der Kinder auf Spiel, Spaß und Abenteuer müssen bei deren Gestaltung im Vordergrund stehen. Ferienangebote sind als außerschulische Angebote vielfältig und ausreichend, also bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen bzw. auszubauen und in die Umsetzung der Ganztagskonzepte vor Ort zu integrieren.
9. Ganztag betrifft die Jugendarbeit in verschiedenen Dimensionen
Die Einführung eines Rechtsanspruchs ist eine Maßnahme, die Wirkung auf die Akteur*innen der Jugendarbeit in allen Bundesländern entfalten wird - unabhängig davon, ob sie sich als Kooperationspartner im Ganztag engagieren werden. Wenn mehr Kinder die Nachmittage in der Schule verbringen und auch die Ferien zunehmend betroffen sind, dann besteht die Gefahr, dass dies zu Lasten der klassischen Angebote der Jugendarbeit geht. Ganztagsangebote müssen daher so gestaltet werden, dass es für die Eltern flexible Buchungsmöglichkeiten gibt, damit die Kinder auch weiterhin die Möglichkeit haben, an Angeboten der Jugendarbeit wie z.B. Gruppenstunden, Sporttrainings, Orchester- und Chorproben oder Ferienfreizeiten teilzunehmen. Die Teilnahme daran muss im Rahmen der Anspruchserfüllung also ermöglicht und ebenso wie die Koordination dieser vielfältigen Angebote im Rahmen der Ganztagesbetreuung gefördert werden.
Weiterhin wird viel Geld für den Ausbau von Ganztagsangeboten investiert werden müssen, was sich auf die Ausstattung von Jugendarbeit vor Ort auswirken kann. Die Finanzierung der Ganztagsbildung darf nicht auf Kosten der ohnehin unterfinanzierten Jugendarbeit passieren. Jugendarbeit muss als eigenständiger Bildungsbereich anerkannt und auskömmlich finanziert werden, um sowohl ihre Kernaufgaben als auch die Aufgaben als Kooperationspartner in der Ganztagsförderung umsetzen zu können.
Durch den zunehmenden Ganztag werden die Sozialisationsorte von Kindern zunehmend institutionalisiert, obwohl viel dafürspricht, dass für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unstrukturierte und unverzweckte Räume wichtig sind.
Um das Recht von Kindern auf Freiräume und freie Zeiten zu gewährleisten, fordern die Jugendverbände und Jugendringe daher:
- Alle Prinzipien (z.B. inklusive Ausrichtung) der Kinder- und Jugendhilfe sind im Rahmen der Ganztagsförderung einzuhalten. Daher muss auch die Beratungs- und Entscheidungskompetenz zu grundsätzlichen Fragen beim Jugendhilfeausschuss liegen.
- Neben den Kooperationsangeboten, die durch Träger von Ganztagsförderung gestaltet werden, müssen (weiterhin) Angebote Dritter, z.B. von Jugendverbänden, möglich und dafür Finanzierungsmöglichkeiten vorhanden sein. Dies muss in den entsprechenden Ausführungsgesetzen der Länder und den Beschlüssen der Kommunen verankert werden.
- Angebote der Kinder- und Jugendarbeit außerhalb des Ganztags müssen weiter gefördert werden, u.a. um das im SGB VIII verankerte Wunsch- und Wahlrecht von Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen.
- Die Finanzierung des Rechtsanspruches darf nicht zu Lasten der Angebote der Kinder- und Jugendarbeit gehen.
- Auch im Rahmen von Ganztagsbildung müssen Ferien Zeiträume der Jugendarbeit bleiben, in denen Erholung und das Recht auf Spiel, Spaß und Abenteuer an Orten außerhalb der Schule gewährleistet bleibt.
- Vor dem Hintergrund der „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität der Ganztagsschule und weiterer ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter“, die die Kultusministerkonferenz am 12.10.2023 beschlossen hat, braucht es eine zwingende Zusammenarbeit von Kultusministerien und Jugendministerien sowie von Schule und Kinder- und Jugendhilfe bei der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen der Ganztagsförderung.
Einstimmig beschlossen im Hauptausschuss am 31. Januar 2024 in Berlin.