Vorsitzende eröffnen 96. DBJR-Vollversammlung
Foto: Bundesjugendring
Liebe Delegierte der 96. DBJR-Vollversammlung,
liebe Freund*innen, liebe Gäste,
vor fünf Wochen waren viele von uns gemeinsam in Berlin auf der Straße und haben gegen die Kürzungspolitik der Bundesregierung in der Jugendarbeit und für einen gut ausgestatteten Kinder- und Jugendplan demonstriert. Vor zwei Wochen hat der Haushaltsausschuss des Bundestages beschlossen, die Kürzungen für uns Jugendverbände zurückzunehmen und uns für ein weiteres Jahr drei Millionen mehr zur Verfügung zu stellen. Wir haben wieder einmal gezeigt, was junge Menschen bewegen können, was Jugendverbände erreichen können, wenn wir eng und gut zusammenarbeiten!
Als Bundesjugendring sind wir die Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände und Landesjugendringe. Viel gute Arbeit und viel wertvolle Gemeinschaft hat diesen Prozess durchzogen: Bereits im dritten Jahr hintereinander den Bundeshaushalt durch unsere jugendpolitische Interessensvertretung zu verbessern.
Dazu habt Ihr alle viel beigetragen. Besonders wichtig waren dabei: Eure klaren Forderungen in unserer Online-Kampagne, Eure zielgerichteten Einladungen von Abgeordneten auf Zeltlager, Ferienfahrten und Jugendbegegnungen, Eure vielen Briefe und Mails ins Parlament, Eure wirksamen Gespräche im Bundestag, Eure rege Beteiligung bei unserer Demo mit Sonderzug, Singbus und bunten Fahnenmeer.
Dies alles hat die Vielfalt der Jugendverbände, unser großes ehrenamtliches Engagement, und unsere Stärke als wichtigen Teil einer pluralen, demokratischen Zivilgesellschaft sichtbar gemacht. Und dies alles hat uns noch enger mit den Parlamentarier*innen, die sich im Jugend- und Haushaltsausschuss für die Interessen junger Menschen einsetzen, verbunden. Gemeinsam mit ihnen sind wir sehr zuversichtlich, dass der Beschluss des Haushaltsausschusses die Bereinigungssitzung und die Verabschiedung im Bundestag übersteht.
Bei aller Freude müssen wir konstatieren: Das war nur ein Teilerfolg. Bis zum finalen Beschluss über den Bundeshaushalt setzen wir uns weiter ein: Für die Freiwilligendienste und für alle gekürzten Träger im Kinder- und Jugendplan. Es war ein Tabubruch, den KJP zusammenstreichen und dies darf nicht noch einmal passieren!
Liebe Delegierte und Gäste unserer Vollversammlung,
blicken wir auf unsere Gesellschaft, stellen wir fest: Wir befinden uns in einer lang andauernden, multiplen Krise. Oft haben wir den Eindruck, eine schlechte Nachricht folgt auf die Andere. Bundesweit und international stehen wir im Angesicht der multiplen Krise vor großen Herausforderungen. Umso wichtiger bleibt es, sich solidarisch unterzuhaken und dort, wo es Fortschritte gibt, diese auch deutlich zu benennen. Denn: An vielen anderen Orten und in einer Vielzahl von gesellschaftlichen Entwicklungen gilt es, sich geschlossen den Folgen von Krisen, Konflikten oder gar Kriegen entgegenzustellen.
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
tief erschüttert haben wir die Terrorangriffe und die Verschleppung und Ermordung von 200 Zivilist*innen in Israel wahrgenommen. Die entsetzlichen Geschehnisse haben eine Brutalität und Menschenfeindlichkeit offenbart, die uns in tiefe Trauer versetzt. Unsere Gedanken sind bei den Menschen, über die der feige Angriff großes Leid gebracht hat. Bei den Opfern, bei den Angehörigen. Unsere tiefe Sorge galt von Beginn an ganz besonders unseren Freund*innen des israelischen Jugendrings CYMI.
Wir sind dankbar für den engen Kontakt zu ihnen in diesen Tagen und bei der gemeinsamen Videokonferenz in der vergangenen Woche haben sie drei Bitten an uns gerichtet: Hier in Deutschland all das gut zu beobachten und zu kommunizieren, was in Israel geschieht. Gerade jetzt. Zur deutsch-israelischen Freundschaft zu stehen. Gerade jetzt. Bereit zu stehen, den internationalen Jugendaustausch und die Begegnungen miteinander, sobald sie wieder möglich sind, zu reaktivieren. Gerade jetzt.
Mit unserem Dringlichkeitsantrag zu diesem Thema wollen wir als Vorstand deutlich machen, dass es eine besondere Verantwortung von uns allen für Jüdinnen und Juden in der Bundesrepublik gibt. Die antisemitischen Parolen, die nicht neu, aber in diesen Wochen besonders massiv auftreten, sind als das zu benennen, was sie sind: Unerträglicher Hass auf Menschen, die auch auf unseren Schutz angewiesen sind. Es hätte - nur um ein Beispiel zu nennen - nie wieder in unserem Land geschehen dürfen, dass Häuser, in denen jüdische Mitbürger*innen leben, mit einem Davidstern beschmiert werden.
Nie wieder. Nie wieder - das ist jetzt. Wir sind deshalb besonders dankbar, dass unsere Gäste aus der jüdischen Studierendenunion hier heute bei uns sind, und dass wir den gemeinsamen Dringlichkeitsantrag zusammen einbringen können. Es bedeutet uns viel, in dieser Zeit an Eurer Seite stehen zu dürfen.
Liebe Freund*innen, Bundeskanzler Scholz hat in seiner Regierungserklärung bekannt, dass ihn die klaren Worte des ukrainischen Präsidenten zum Krieg im Nahen Osten sehr berührt haben. Auch in der Ukraine wütet weiterhin der russische Angriffskrieg und bringt Leid und Tod über viele Menschen. Jeden Tag. Die Arbeit des ukrainischen Jugendrings findet weiterhin unter prekären Bedingungen statt. Wir sind froh den NYCU mit einem gemeinsamen Förderprojekt erneut unterstützen zu können.
Unsere ukrainischen Freund*innen brauchen aber die langfristige Absicherung ihrer Arbeit. Teil des Wiederaufbaus der Ukraine muss deshalb die Unterstützung der dortigen Zivilgesellschaft sein. Zu dieser gehört der NYCU als die demokratisch legitimierte Interessensvertretung junger Menschen in der Ukraine.
Die Konflikte auf dieser Welt sind so zahlreich, dass man sie nur beispielhaft benennen kann: Auch Menschen in Armenien, im Sudan, in Syrien und in den palästinensischen Autonomiegebieten leiden unter Gewalt, Hunger, Durst und mangelnder Gesundheitsversorgung, befinden sich im Krieg oder werden vom eigenen Regime in einem solchen geschickt. Überall dort wo Zivilist*innen sterben, ist das klar zu verurteilen.
Wir wollen heute deshalb allen Menschen danken, die sich für Frieden und Freiheit einsetzen. Unabhängig davon welcher Nationalität oder Religion sie angehören. Oft sind es junge Menschen. Vielerorts müssen sie sich Repression, Gewaltherrschaft und massiven Verletzungen von Menschenrechten entgegenstellen und humanitäre Hilfe leisten.
Und oft sind es Jugendstrukturen, die unter der Einschränkung zivilgesellschaftlicher Handlungsräume besonders leiden – auch in Europa. Lasst uns deshalb die Parlamentswahlen in Polen als ein Zeichen der Hoffnung begreifen, für Demokratie, europäische Integration und gegen Nationalismus.
Antidemokrat*innen (und unter ihnen ganz besonders Rechtsextreme) fordern auch in Deutschland Rechtsstaat, Regierung, Parlament und Gesellschaft heraus. Wahlergebnisse aus den Bundesländern, die Ergebnisse der Mitte-Studie, der nach rechts verschobene öffentliche Diskurs, bereiten uns große Sorge.
Viele dieser Entwicklungen sind nicht neu, sie haben sich jedoch massiv verschärft. Es bleibt eine stetige Aufgabe, sich Menschenfeinden entgegenzustellen. So darf es mit der Alternative für Deutschland - die keine ist! - für demokratische Parteien, Vereine und Verbände keine Zusammenarbeit geben.
Es geht darum, sich inhaltlich und konfrontativ mit ihr auseinanderzusetzen und die von ihr adressierten gesellschaftlichen Probleme mit klaren politischen Antworten und nachhaltigen Lösungen zu begegnen. Es ist ein Problem, wenn der politische Diskurs von Rechtsaußen bestimmt wird. Unser Land braucht keine inhumane "Abschiebe-Offensive", sondern eine Offensive für Demokratieförderung, Soziale Sicherheit und nachhaltige Entwicklung.
Lasst uns deshalb einen Blick auf die jugendpolitische Bilanz der Ampel-Koalition werfen. Da stehen einzelne Vorhaben durchaus auf der Haben-Seite: Endlich dürfen 16- und 17-Jährige zur Europawahl wählen. Eine jahrzehntelange Forderung von uns. Die Kostenheranziehung für Kinder und Jugendliche aus Pflegefamilien und solchen, die in der Kinder- und Jugendhilfe leben, wurde zu Recht abgeschafft. Jugendbeteiligung ist in aller Munde. Unsere mit dem Jugendministerium erarbeiteten Qualitätsstandards finden eine hohe Anerkennung und eine große Verbreitung. Die Ausbildungsplatzgarantie kommt ab Mitte nächsten Jahres. Endlich haben alle jungen Menschen ein Recht auf eine Berufsausbildung. Der Entwurf des Selbstbestimmungs-Gesetzes geht grundsätzlich in die richtige Richtung. Der Entwurf des Demokratiefördergesetz könnte die wichtige Arbeit mancher zivilgesellschaftlicher Organisationen absichern.
Gleichzeitig müssen wir konstatieren: Eine konsequente, fortschrittliche Politik im Interesse junger Menschen vermissen wir bisher. Die Kindergrundsicherung sollte einen Paradigmenwechsel darstellen und wurde uns als das größte sozialpolitische Vorhaben der Ampel-Koalition verkauft. Nach über einem Jahr Debatte über Zahlen im Bundeshaushalt (anstatt über Armut!) bleibt wenig von den ursprünglichen Hoffnungen übrig. Eine Verwaltungsreform und Vereinfachung des Zugangs zu staatlichen Leistungen ist möglich - immerhin. Ihre finanzielle Ausstattung bleibt jedoch völlig unzureichend.
In Deutschland lebt jeder vierte Jugendliche in materieller Armut. Es fehlt offenbar der politische Wille, diese zu beenden. Die ökonomischen, bildungs- und sozialpolitischen Folgen kommen uns allen teuer zu stehen. Unser Land kann sich viel leisten. Kinder- und Jugendarmut nicht.
Wer auf Gerechtigkeitsfragen blickt, der kommt an der Finanzpolitik nicht vorbei. Nach wie vor hat sich die Regierung hier zwischen Schuldenbremse, keiner Neuordnungen in Steuerfragen und keinem Abbau von klimaschädlichen Subventionen, im Dreieck einer regressiven Finanzpolitik eingemauert.
Der vorliegende Haushalt zeigt deutlich: Dieser Ansatz ist falsch. Denn die Folgen sind: Die Inflation steigt - und bei Familien, Senioren, Frauen und Jugend, bei Zivilgesellschaft und Demokratie wird gekürzt. Die soziale Schere geht weiter auseinander und die Klimakrise schreitet voran.
Gerade jetzt müsste in sozialen Zusammenhalt, in demokratische Partizipation - in Millionen Zukünfte junger Menschen - investiert werden. Stattdessen wird per Schuldenbremse unsere Zukunft ausgebremst und wichtige Investitionen verhindert.
Dies gilt umso mehr, da es Investitionen in eine sozial-ökologische Transformation braucht, die zum Schutz des Klimas und der Artenvielfalt dringender denn je ist. Die Zwischenbilanz der Agenda 2030 fiel alarmierend aus: Nur 15 Prozent der Nachhaltigkeitsziele liegen aktuell im Zeitplan. Viele entwickeln sich sogar rückläufig. Gerade die wohlhabenden Länder liefern nicht.
Gleichzeitig wurde bekannt: Sechs von neun planetaren Grenzen sind bereits überschritten. Insbesondere die Industriestaaten sorgen weiter dafür, dass unsere Lebensgrundlagen ins Wanken geraten.
Schon beim Blick auf Teile der Bundesregierung wird deutlich: Der Ernst der Lage ist dort nicht angekommen. Warum wird ansonsten jetzt der einzige Erfolg aus dem Verkehrsressort, das Deutschland-Ticket, wieder in Frage gestellt?
Immerhin gibt es mit dem Aktionsprogramm "Natürlicher Klimaschutz" und bei der Beschleunigung der Energiewende auch positive Akzente. Wir hoffen, mit der Koordination der Jugendbeteiligung im Klimaministerium den Austausch mit der Regierung und den gesellschaftlichen Druck zu erhöhen.
Viele politische Richtungsentscheidungen werden in Brüssel und Straßburg getroffen. Umso wichtiger, dass wir ein halbes Jahr vor der Europawahl unsere Forderungen an die Kandidierenden zum Europaparlament zu adressieren:
Unser Europa ist ein weltoffenes und demokratisches. Es basiert auf Rechtsstaatlichkeit und sichert Menschenrechte, auch und gerade in der Migrations- und Asylpolitik.
Unser Europa ist ein soziales und solidarisches. Es sorgt für angemessene Arbeitsbedingungen, gute Löhne und Mindestlöhne. Jugendarbeitslosigkeit muss sinken, soziale Sicherheit steigen.
Unser Europa ist ein zukunftsfähiges und nachhaltiges. Europa muss klimagerecht handeln und den Ausstieg aus fossilen Energien beschleunigen. Die EU braucht ein starkes und wirksames Lieferkettengesetz.
Unser Europa ist ein jugendgerechtes. Es bindet Jugendverbände aus allen Ländern mit ein, stärkt und fördert sie strukturell. Es lässt Jugendliche europaweit spätestens ab 16 Jahren wählen. Jugendförderprogramme werden ausgebaut und entbürokratisiert. Freiräume und Unterstützung für junge Menschen sind kein Nischenthema mehr.
Denn: Zurzeit ist gerade der Druck auf junge Menschen schon hoch genug. Unser Leitantrag setzt sich deshalb mit der mentalen Gesundheit junger Menschen auseinander.
Wir kennen sie alle, den Vorstandskollegen, der keine Kraft mehr hat, die Teamerin, die nur noch traurig ist, Jugendliche, die Angst vor der Zukunft haben. Viele von uns kennen erhebliche mentale Belastungen bei sich selbst. Uns bereitet die hohe Zahl junger Menschen Sorge, die psychisch schwer belastet sind.
Zum Ende unserer Rede wollen wir die Klammer zum Anfang setzen - zu den für uns alle so entscheidenden Förderfragen, die darüber bestimmen ob Ferienfreizeiten, Juleica-Kurse, internationale Jugendarbeit und politische Bildung auch in den kommenden Jahren weiter im gleichen Umfang organisiert werden können.
Dies ist essentiell für junge Menschen, ihre demokratischen Selbstorganisationen - aber auch für die Gesellschaft. Denn: Wo heute das Zeltlager nicht mehr von einer bunten jungen, demokratischen Zivilgesellschaft aufgebaut wird, sind es morgen Neonazis, die Kinder und Gesellschaft unterhalten. Beispiele dafür gibt es genug.
Liebe Staatssekretärin Gottstein,
wir freuen uns wirklich sehr, dass sie uns heute hier besuchen und sind auf ihr Grußwort gespannt. Wir befinden uns in der Situation, nun im dritten Jahr, immer wieder von neuem, einen Aufwuchs in Höhe eines Inflationsausgleichs für Jugendverbände im Parlament erreicht zu haben. Das Jugendministerium hat diese Erhöhung die letzten beiden Jahre jeweils nicht verstetigt, sondern ihn im Folgejahr stets wieder gekürzt.
Wie konnte das eigentlich passieren? Trotz Inflation, trotz Lohnsteigerungen, trotz der Situation, in der sich junge Menschen in der Pandemie befinden, trotz des Drucks auf uns als demokratische Zivilgesellschaft von Rechtsaußen. Wir richten unsere Frage gerne auch nach vorne: Wie gelingt es 2024, den jetzigen Aufwuchs endlich zu verstetigen?
Wir würden uns sehr freuen, wenn wir dazu auch mit Ihnen, liebe Jana Borkamp, als neue Abteilungsleiterin für den Bereich Jugend, eng zusammenarbeiten können. Denn im Koalitionsvertrag wurde eine angemessene Ausstattung des Kinder- und Jugendplans zugesagt. Und da gibt es noch viel zu tun. Zum Beispiel auch für die internationale Jugendarbeit. Letztendlich braucht es eine Dynamisierung aller Mittel im KJP.
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
die Arbeit wird uns erst einmal nicht ausgehen. Und die Vollversammlung fängt gerade erst an. Deshalb freuen wir uns nun auf zwei eng getaktete Tage mit Antragsberatungen, Wahlen und vielen guten Begegnungen zwischen uns allen.
Die 96. Vollversammlung des Deutschen Bundesjugendrings ist hiermit eröffnet!