Die ökosoziale Stadt für alle jungen Menschen!
Das Leben in der Stadt ist in Deutschland seit Jahren ungebrochen attraktiv, wodurch Urbanisierungsprozesse in großen Teilen des Landes weiter voranschreiten. Der hieraus resultierende Wachstums- und Verdichtungsdruck sorgt für massive Veränderungen in den Städten. Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen finden kaum Berücksichtigung bei wichtigen Weichenstellungen für die Zukunft der Stadt. Eine entscheidungsrelevante, direkte Beteiligung bei städtebaulichen und Stadtentwicklungs-Maßnahmen gibt es nicht. Kinder und Jugendliche dürfen zudem weder die Politiker*innen wählen, die über Stadtentwicklung entscheiden, noch sind sie in die wenigen existierenden Beteiligungsverfahren als Gruppe mit speziellen Interessen eingebunden. Gerade junge Menschen müssen aber noch lange in den Städten leben, die andere heute für sie entwerfen.
Die Städte denen, die sie nutzen!
Kinder und Jugendliche wollen dort mitentscheiden, wo es um ihr Leben und ihre Zukunft geht; das haben nicht zuletzt die Fridays for Future-Proteste des vergangenen Jahres eindrücklich bewiesen. Sie brauchen Grün- und Freiflächen, um sich zum Spielen oder Zeitvertreib zu treffen, sich der Kontrolle der Eltern für eine Weile zu entziehen und sich auszuprobieren. Sie sind auf nicht-kommerzialisierte Freiflächen zur freien Nutzung angewiesen. Um zu diesen zu gelangen, brauchen sie Mobilitätsangebote und eine Verkehrsinfrastruktur, die es ihnen ermöglichen, sich ihre Städte unabhängig von der sozioökonomischen Lage ihrer Eltern zu erschließen. Attraktive Orte müssen auch ohne Auto sicher und schnell erreichbar sein. Kinder und Jugendliche müssen mitentscheiden, wenn es um die Entwicklung ihrer Städte geht. Hierfür reicht es nicht, Jugendparlamente mit Scheinrechten auszustatten, oder bei großen Bauprojekten gönnerhaft Spielplätze und Jugendzentren mit zu planen.
Deshalb fordert der DBJR:
Die Verankerung wirkmächtiger Jugendbeteiligung auf kommunaler Ebene.
Jugendbeteiligung an kommunalpolitischen Entscheidungen führt Kinder und Jugendliche an wichtige politische Prozesse heran. Jugendparlamente sind jedoch trotz ihrer theoretischen Potenziale in der Praxis Wege der Scheinbeteiligung. Derartige Strukturen schaden nicht nur einer nachhaltigen und bürger*innennahen Stadtentwicklung, sondern fördern auch Politikverdrossenheit und Frustration. Kindern und Jugendlichen ist es zuzutrauen und zuzumuten, dass sie nicht nur über die Farbe der Klettergerüste auf dem nächstgelegenen Spielplatz sondern eben auch über Bauleitplanung und Verkehrskonzepte an ihrem Wohnort mitentscheiden. Selbstwirksamkeitserfahrungen in jungen Jahren können über das bürger*innenrechtliche Argument hinaus zudem einen positiven Beitrag zur Durchbrechung von Armutsschleifen leisten. Neuere Studien belegen, dass Kinder und Jugendliche, die erfahren, dass ihr eigenes Handeln Veränderung bewirken kann, weniger häufig die Armutsbiografien ihrer Eltern wiederholen1. Nicht zuletzt aber auch aus Gründen der Generationengerechtigkeit können politische Entscheidungen, die die Lebensrealität junger Generationen nachhaltig beeinflussen, nicht ohne sie getroffen werden.
Der DBJR fordert daher die deutschlandweite Etablierung wirksamer Kinder- und Jugendbeteiligung in allen kreisfreien Städten und kreisangehörigen Gemeinden. Junge Menschen und deren Zusammenschlüsse müssen mit wirksamen Beteiligungsinstrumenten ausgestattet werden. Sie müssen zudem in die Lage versetzt werden, sich zu allen kommunalpolitisch relevanten Themen zu positionieren – unabhängig davon, ob diese Kinder und Jugendliche akut betreffen oder nicht. Hierfür müssen zum einen ihre Wirkmacht ausgedehnt, zum anderen pädagogische Angebote zur alters- und bedarfsgerechten Heranführung von Kindern und Jugendlichen an kommunalpolitische Prozesse gefördert werden. Die Jugendringe und Jugendverbände können hierbei mit ihrer langjährigen Erfahrung in Beteiligungsprozessen einen erheblichen Beitrag leisten und müssen daher bei der Etablierung wirkmächtiger Strukturen eingebunden werden. Die konkrete Ausgestaltung dieser Strukturen wird in einem im Herbst 2020 startenden Prozess erarbeitet.
Die Einführung des Jugend-Checks auf kommunaler Ebene
Der Jugend-Check als Instrument zur Abschätzung von Gesetzesfolgen in Bezug auf die Lebensphase Jugend hat sich auf Bundesebene bewährt. Auch wenn negative Auswirkung parlamentarischer Entscheidungen auf junge Menschen durch den Jugend-Check (noch) nicht vermieden werden können, stellt dieser doch eine wertvolle Orientierungs- und Sensibilisierungshilfe für kinder- und jugendgerechte Politik dar. Es zeigte sich außerdem, dass Politik, die junge Menschen betrifft, im Sinne einer eigenständigen Jugendpolitik, nicht ausschließlich im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gemacht wird. Vielmehr können Gesetzes- und Verordnungsvorhaben aus allen Ressorts spezifische Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche haben2.
Daher fordert der DBJR die Kommunen dazu auf, analog zum Jugend-Check auf Bundesebene auch auf der Gemeinde-Ebene vergleichbare Modellprojekte umzusetzen. Gerade dort, wo politisches Handeln durch die Nähe zu den Betroffenen unmittelbar wirkt, kann der Jugend-Check dazu beitragen, die Lebenslagen Kindheit und Jugend in Entscheidungsfindungsprozessen angemessener zu berücksichtigen und so insgesamt zu einer kinder- und jugendgerechten Politik auf kommunaler Ebene beitragen.
Genauso ist eine sinnvolle Zusammenarbeit mit vorhandenen Strukturen wie dem Jugendhilfeausschuss notwendig. Wenn der Jugendcheck spezifische Auswirkungen der politischen Entscheidung auf junge Menschen belegt, ist eine Beteiligung junger Menschen im Sinne der jeweiligen Gemeindeordnungen zwingend vorzusehen.
Stadtgrün erhalten und fördern, Freiflächenkategorien im Baugesetzbuch ergänzen
Naturerfahrungen sind ein integraler Bestandteil kindlicher Entwicklung – auch und gerade in den Städten. Natur erzeugt auch durch den Umgang mit dem Lebendigen lokale Verbundenheit und ein Bewusstsein für die eigene Verortung in der Welt. Kinder und Jugendliche schätzen das Spiel in der sich stetig wandelnden Natur, die dennoch viele Konstanten bietet. Nicht verplante Freiflächen bieten zudem besondere Möglichkeiten für eine kreative Gestaltung der Arbeit von und mit jungen Menschen und stellen alternative Orte der Freizeitgestaltung für Kinder und Jugendliche dar. Einen besonderen Reiz kann der erlebnispädagogische Charakter von Freiflächen daher auch für kulturelle oder sportliche Aktivitäten haben. Junge Menschen können sich die unverzweckten Räume aneignen, gestalten und sie so ihren individuellen Bedürfnissen und Interessen gemäß nutzbar machen. Immer wieder zeigen Untersuchungen, dass gerade die unverplanten Stadtflächen wie Brachen, ungenutzte Bahndämme oder Ruinen im Vergleich zu Spielplätzen deutlich intensiver von Kindern und Jugendlichen genutzt werden. Aber auch städtische Naturerfahrungsräume (NER) sind eine ideale Möglichkeit, Stadtnaturschutz und urbanes Leben miteinander zu verbinden. Diese sind weitgehend ihrer natürlichen Entwicklung überlassene, möglichst große, öffentliche Freiräume im Wohnumfeld, auf denen Kinder frei und ohne künstliche Spielgeräte spielen können. Naturerfahrungsräume zeigen exemplarisch, dass dort, wo Kinder und Jugendliche frei spielen und selbst entscheiden dürfen, sie ihren Sozialraum kontinuierlich verändern und an ihre Bedürfnisse anpassen.
Die Jugendverbände wollen den Klimaschutz ernst nehmen. Einer Studie der ETH Zürich zufolge könnte bei nur 1,4 Grad globaler Erwärmung in Berlin bereits 2050 ein ähnliches Klima herrschen wie heute in Canberra, Australien3. Grüne Rückzugsorte in den Städten – hierzu gehören Brachflächen, Ruinen, Parks, Kleingartenanlagen, Stadtwälder und NERs – tragen überaus positiv zum Erhalt des Stadtklimas bei und sind damit deutlich mehr als bloß potenzielles Bauland. Sie fungieren in heißen Sommern als Kältespeicher und sorgen für Wind. So sind sie in der Lage, bevorstehende Klimaveränderungen zumindest teilweise abzufedern.
Daher fordert der DBJR die Kommunen dazu auf, dem Wert von Grünflächen für die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die Gesundheit der Stadtbewohner*innen und das Stadtklima im Allgemeinen Rechnung zu tragen. Das bedeutet konkret die Aufnahme von Brachen als Freiflächenkategorie im Baugesetzbuch, den umfassenden Schutz von bestehendem Stadtgrün wie Kleingartenanlagen, Stadtwäldern und Parks und den Aufbau grüner Achsen in zentralen Stadtlagen. Außerdem fordert der DBJR eine generelle Prüfungspflicht von Nachverdichtungsmöglichkeiten vor der Versiegelung bestehender Grünflächen. Darüber hinaus unterstützt der DBJR die Forderung der Stiftung Naturschutz und anderer nach einer Verankerung von Naturerfahrungsräumen als Freiflächenkategorie im Baugesetzbuch sowie nach der Einrichtung und dem Betrieb von mindestens einem Naturerfahrungsraum mit mindestens 1 Hektar Größe pro Stadt, bzw. pro Bezirk in größeren Städten.
Ausbau der sicheren und kostenfreien Mobilität für Kinder und Jugendliche
Städte sind Räume der Begegnung, des Austausches und der gemeinsam gemachten Erfahrungen. Attraktive Freizeit- oder Naherholungsangebote sind in Städten jedoch nicht gleichmäßig verteilt. Um das volle Potenzial der Städte nutzen zu können, sind Kinder und Jugendliche darauf angewiesen, sich in der Stadt jederzeit und uneingeschränkt bewegen zu können. Die derzeitige autozentrierte Stadtplanung hält für Minderjährige jedoch nur eingeschränkte und häufig kosten- sowie zeitintensive Mobilitätsangebote im urbanen Raum vor4. Insbesondere für fahrradfahrende Kinder und Jugendliche stellt der immer weiter zunehmende Verkehr ein größer werdendes Risiko dar. Berlin hat mit seiner Initiative zur kostenfreien Nutzung des ÖPNVs für alle Schüler*innen und dem Ausbau sicherer Fahrradinfrastruktur hier schon einen Schritt in die richtige Richtung unternommen. Darin darf sich das Engagement der Verantwortlichen in den Kommunen jedoch nicht erschöpfen. Daher fordert der DBJR:
- die Umplanung und -gestaltung von Städten und Gemeinden, sodass umweltschonende Alternativen attraktiver als der motorisierte Individualverkehr werden, und Menschen ihre Wege im Alltag schneller, günstiger und zuverlässiger zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln erledigen können,
- kostenfreien ÖPNV für alle jungen Menschen,
- eine bedarfsgerechtere Taktung von Bussen und Bahnen,
- mehr ÖPNV-Angebote an Wochenenden und in den Abendstunden,
- den massiven Ausbau der Fahrradinfrastruktur sowie nachhaltig und nicht kommerziell betriebener Leihradsysteme,
- den Ausbau und die Stärkung der Fußverkehr-Infrastruktur,
- den Verzicht auf Gebühren für die Mitnahme von Fahrrädern im ÖPNV,
- barrierefreie Haltestellen und Bahnhöfe,
- WLAN an Haltestellen und Bahnhöfen sowie in Bussen und Bahnen,
- intelligente digitale Systeme zur besseren Verbindung von ÖPNV, Leihradsystemen und anderen „Shared Mobility“ Angeboten.
Auch hierzu braucht es zwingend die Beteiligung junger Menschen an Planungsprozessen der Verkehrsentwicklung. Kinder- und jugendgerechte Mobilitätsangebote sind ohne den Input und die Beratung von Kindern und Jugendlichen nicht realisierbar und gehen häufig an den Bedarfen der jungen Menschen vorbei.
Die gesundheitsfördernde Stadt
Die Belastung durch Lärm, Dreck, Abgase und andere gesundheitsschädliche Faktoren in Städten ist nicht überall gleich verteilt. Vielmehr nimmt die Belastung häufig mit steigendem Einkommen ab. Städte wurden schon früh so konzipiert, das einkommensschwache Bezirke abwindig der Industriestandorte lagen. Auch heute noch sind einkommensschwache Familien daher in Städten häufig einer doppelten Gesundheitsbelastung ausgesetzt: Sie können sich die Mobilität, die für gesellschaftliche Teilhabe nötig wäre, selbst kaum leisten. Sie leben aber in den Stadtteilen mit der größten Verkehrsbelastung5. Auch die Verteilung des Stadtgrüns spiegelt häufig die Einkommenslagen der Stadtbewohner*innen wider, wodurch die Gesundheitsbelastung für Bewohner*innen einkommensschwacher Stadtlagen weiter verschärft wird.
Kinder und Jugendliche haben keinen Einfluss auf die sozio-ökonomische Situation ihrer Eltern, geschweige denn können sie sich ihren Wohnort selbst aussuchen. Alle Kinder und Jugendlichen haben jedoch das gleiche Recht auf körperliche Unversehrtheit und ein gesundes Heranwachsen – unabhängig von Einkommen oder sozialem Status ihrer Eltern. Deshalb fordern wir die Kommunen auf, bei Stadtentwicklungsprojekten und -planungsprojekten Aspekte der Gesundheitsbelastung in einkommensschwachen Nachbarschaften besonders zu berücksichtigen. Das bedeutet konkret die verkehrstechnische Entlastung von einkommensschwachen Nachbarschaften, den Ausbau von schadstoff- und kostenfreien Mobilitätsangeboten in ebendiesen, sowie die verstärkte Entwicklung und Instandhaltung von Grünflächen und Naturerfahrungsräumen in Stadtlagen mit hoher Schadstoffbelastung – und damit zugleich auch ein Entgegenwirken der millieubezogenen Segregation in den Städten.
Der DBJR steht für das Recht aller Stadtbewohner*innen auf Selbstbestimmung, für Umweltgerechtigkeit in den Städten, den Erhalt und den Ausbau grüner, nicht kommerzialisierter und selbstverwalteter Rückzugsorte in den Städten, sowie die Verbesserung von Biodiversität, Klima, Gesundheitsschutz und Ernährungssouveränität6 in Städten. Kurz: für ein generelles Recht auf die öko-soziale, lebenswerte Stadt. In den Städten müssen die Weichen für eine partizipative, nachhaltige und ökologische Entwicklung gestellt und soziale Teilhabe für alle ermöglicht werden. Kindern und Jugendlichen muss dabei gleiches Recht auf Mitbestimmung wie Erwachsenen zustehen.
Einstimmig beschlossen von der Vollversammlung am 25.-27. Oktober 2019 in Berlin.
***
1 Schiek, Daniela; Ullrich, Carsten G. (2017): Von Generation zu Generation? Armutskarrieren aus familiengeschichtlicher Perspektive.
2 Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung (Hg.) (2018): Erster Bericht des Kompetenzzentrums Jugend-Check. Für eine jugendgerechte Gesetzgebung.
3 Bastin, J-F.; Clark, E.; Elliott, T.; Hart, S.; van den Hoogen, J.; Hordijk, I.; et al. (2019): Understanding climate change from a global analysis of city analogues. doi.org/10.1371/journal.pone.0217592
4 Umweltbundesamt (2016): Umweltbewusstsein und Umweltverhalten junger Menschen. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/378/publikationen/umwe-ltbewusstsein_und_umweltverhalten_junger_menschen.pdf
5 Becker, T. (2015): Sozialräumliche Verteilung von verkehrsbedingtem Lärm und Luftschadstoffen am Beispiel von Berlin. Dissertation an der TU Dresden.
6 Zukunftsstiftung Landwirtschaft: Ernährungssouveränität. www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/ernaehrungssouveraenitaet/ernaehrungssouveraenitaet-volltext.html!