Armut

Gemeinsame Erklärung des Ratschlag Kinderarmut

Gemeinsam mit einem breiten Bündnis aus Verbänden, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen fordert der Bundesjugendring mehr Geld für die Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut. Die dafür notwendigen Mittel müssen von der Bundespolitik im Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt werden. Dabei müssen soziale Infrastruktur und monetäre Leistungen ineinandergreifen. Die gemeinsame Erklärung „Solidarität mit armutsbetroffenen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien – besonders in der Inflationskrise!“ im Wortlaut:

Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, haben nicht die gleichen Bildungschancen, sind öfters gesundheitlich eingeschränkt und müssen materielle Entbehrungen erleiden. Ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen in unserem Land sind davon betroffen: mit 20,8 Prozent liegt die Armutsquote bei Kindern auf dem höchsten Stand seit Jahren.

In den vergangenen Jahren hat sich die Situation deutlich verschärft: Durch die Corona-bedingte Schließung von Einrichtungen und Unterstützungsstrukturen wie Kitas, Schulen, Jugendclubs und Familienzentren waren Familien lange Zeit und in wiederkehrendem Maße auf sich allein gestellt und zum Teil hohen Belastungen ausgesetzt. Gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten langsam aber stetig gestiegen und nun durch die Inflation aktuell explodiert. Auf Familien, die Sozialleistungen beziehen, oder die trotz Erwerbstätigkeit unter der Armutsgrenze liegen, ist der Druck dramatisch gestiegen.

Es droht die soziale Katastrophe für viele Kinder, Jugendliche und ihre Familien!

Der Ausnahmezustand dauert bereits mehr als zweieinhalb Jahre an. Für ein fünfjähriges Kind ist das die Hälfte seiner Lebenszeit. Dies hat bei vielen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien deutliche Spuren hinterlassen. Die soziale Spaltung verschärft sich weiter, da all dies nicht nur arme Familien betrifft, sondern mittlerweile bis weit in die Mittelschicht hineinreicht.

Um die gewachsenen Belastungen der Familien abzufedern, wurden ein Kinder-Sofortzuschlag und ein einmaliger Kinderbonus gewährt. Um Kinder und Jugendliche insbesondere aus Familien mit geringen Einkommen zu unterstützen und Versäumtes nachzuholen, wurde das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ aufgelegt. Diese Maßnahmen reichen jedoch nicht aus, um die aktuellen Preissteigerungen für armutsbetroffene Familien aufzufangen, geschweige denn, um einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland zu leisten. Gleichzeitig verharren die Sozialleistungen weiter auf einem unzureichend niedrigen Niveau. Die ab 2023 teilweise an die Inflation angepassten Regelsätze bedeuten zwar etwas Entlastung für die betroffenen Familien, ein Aufwachsen ohne Armut ermöglichen sie den Kindern und Jugendlichen aber nicht.

Hatten viele armutsbetroffene oder armutsbedrohte Familien bereits vor oder während der Corona-Pandemie zu kämpfen, um über die Runden zu kommen, so wissen mittlerweile viele dieser Familien angesichts unvermindert stark ansteigender Preise für Energie und Lebensmittel überhaupt nicht mehr, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Familien, die trotz Arbeit an der Armutsschwelle leben, darunter viele Alleinerziehende, stoßen angesichts der explodierenden Wohnnebenkosten an ihre Grenzen. Hier schafft auch das dritte Entlastungspaket mit einer Erhöhung von Kindergeld und Kinderzuschlag kaum Abhilfe, denn es unterstützt nicht zielgenau diejenigen, die diese Hilfen am dringendsten brauchen. Gleichzeitig ist eine Umsetzung der Kindergrundsicherung noch nicht in Sicht. Es braucht dringend bedarfsgerechte Lösungen – jetzt!

Zudem droht, dass Kommunen Kürzungen in ihren sozialen und kulturellen Aufgaben sowie bei Investitionen in die Infrastruktur vornehmen werden. Jugendfreizeiteinrichtungen, Familienzentren, Hilfen für Familien sowie Familienbildungs- und Familienerholungsstätten haben aber nicht nur einen wichtigen sozialpolitischen, pädagogischen und soziokulturellen Auftrag. Sie sind unentbehrlicher Bestandteil der sozialen Infrastruktur von Städten und Gemeinden und – auch ohne subjektiven Rechtsanspruch der Leistungsempfänger*innen – eine Pflichtaufgabe der Länder und Kommunen und dürfen grundsätzlich nicht zur Disposition gestellt werden.

Gerade für armutsbetroffene Kinder, Jugendliche und Familien, darunter sehr viele alleinerziehende und kinderreiche Familien, sind soziale Einrichtungen insbesondere in Krisenzeiten wichtige Anlaufstellen. Sie sind Begegnungs-, Bildungs-, Gesundheits-, Beratungs- und Erfahrungsorte, die an nachbarschaftliche Lebenszusammenhänge anknüpfen und für viele den Stellenwert eines zweiten Wohnzimmers haben. Dort, wo Familien zunehmend unter Druck geraten, können diese Einrichtungen und ihre vielfältigen Angebote gezielt entlasten und durch frühzeitige Unterstützung einen wichtigen Beitrag zum präventiven Kinderschutz leisten.

Wir, die unterzeichnenden Organisationen und Einzelpersonen, die sich in 2022 erneut zu einem „Ratschlag Kinderarmut“ zusammengefunden haben, fordern die Politik in Bund, Ländern und Kommunen auf, mit armen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien solidarisch zu sein und die Armut nicht trotz, sondern wegen der aktuellen Inflation zu bekämpfen!

Wir fordern:

  • Infrastrukturleistungen und monetäre Leistungen ergänzen einander im Kampf gegen Kinderarmut und gesellschaftliche Ausgrenzung und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Für ein gutes Aufwachsen brauchen Kinder und Jugendlichen beides: eine bedarfsgerechte finanzielle Absicherung und chancengerechte Infrastrukturangebote im Sozialraum.
  • Eine bedarfsgerechte Infrastruktur im direkten Lebensumfeld von jungen Menschen und ihren Familien muss sichergestellt sein! Hierfür ist eine verlässliche und auskömmliche Finanzierung der Einrichtungen, Dienste und Angebote und ihrer Träger im Bereich der Kinder- und Jugend- und Familienhilfe, die ebenso die steigenden Energiekosten berücksichtigt, unabdingbar.
  • Die sogenannten Soll-Leistungen des SGB VIII sind dabei keinesfalls „freiwillig“, sondern müssen als klare Leistungsverpflichtungen der Länder und Kommunen verstanden werden. Dort, wo landesgesetzliche Vorgaben nicht ausreichen, um der Gewährleistungspflicht und der damit verbundenen Planungs- und Finanzverantwortung nachzukommen, sollen die Länder dazu verpflichtet werden, eine Jugend- und Familienförderung im Rahmen von Ausführungsgesetzen zu regeln. Für Kommunen, die diese Aufgaben aufgrund der angespannten Finanzsituation nicht mehr stemmen können, müssen Bund und Länder entsprechende Finanzhilfen gewähren.
  • Die sozial- und familienpolitischen Leistungen müssen zielgenau weiterentwickelt werden, sodass alle Kinder und Jugendlichen eine Chance auf ein Aufwachsen in Wohlergehen haben. Hierzu gehört dringend eine monetäre Absicherung im Rahmen einer echten Kindergrundsicherung aus einer Hand, auf der Basis eines neu und realistisch ermittelten soziokulturellen Existenzminimums von Kindern und Jugendlichen. Bis zur Einführung der Kindergrundsicherung braucht es schnelle und lückenlose Hilfe. Der Sofortzuschlag und die geplante Kindergelderhöhung sind keine passenden Mittel. Sie sind zu gering, und das Kindergeld wird auf Leistungen nach dem SGB II und Unterhaltsvorschuss oder den Kindesunterhalt angerechnet. Alle Kinder, die in Deutschland aufwachsen, müssen vollumfänglich von den Maßnahmen profitieren können. Die geplante und notwendige Ausweitung des Kreises der Berechtigten im Wohngeld und die Klima- und Heizkostenkomponente sowie der zusätzliche Heizkostenzuschuss sind richtige und wichtige Hebel, um erhöhte Energie- und Mietpreise besser abzufangen. Nötig ist ein vereinfachtes und schnelleres Antragsverfahren, um Notsituationen Betroffener niedrigschwellig abfedern zu können und Verlust von Wohnraum effizient zu verhindern. Der Winter steht bereits vor der Tür und beginnt nicht erst Anfang 2023.
  • Nach der zweifelhaften Wirksamkeit der „Aufholen nach Corona“- Programme für Schüler*innen müssen dringend zielgerichtetere Maßnahmen ergriffen werden, damit Kinder und Jugendliche nicht weiter zu Bildungsverlierer*innen werden. Die Situation für Kinder und Jugendliche muss über das angekündigte „Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit“ hinaus endlich schnell, dauerhaft und wirksam verbessert werden. Die Politik muss die Interessen und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen in den Vordergrund stellen. In unserer sozialen Marktwirtschaft ist es eine wesentliche Aufgabe des Staates, soziale Notlagen abzufangen, konsequent gegen Armut und soziale Ausgrenzung vorzugehen und die Finanzierung der Sozialpolitik durch gezielte und gerechtere Umverteilung von Kosten und Gewinnen sicherzustellen. Deshalb lassen wir uns auf eine Rhetorik vermeintlich „leerer Kassen“ nicht ein.

Wir sind es den Kindern und Jugendlichen schuldig!

Themen: Armut