Vollversammlung Vielfalt

Inklusion in Jugendverbandsarbeit und Gesellschaft politisch vorantreiben und gemeinsam leben

Die Vollversammlung des Bundesjugendrings hat am 28./29.10.2022 die Position „Inklusion in Jugendverbandsarbeit und Gesellschaft politisch vorantreiben und gemeinsam leben“ beschlossen.

Der gesellschaftliche Anspruch auf Inklusion leitet sich aus dem Grundgesetz (GG) ab: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (Artikel 3 GG). Damit ist klar, dass alle Menschen gleichwertig und gleichberechtigt zu behandeln sind.

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 hat sich Deutschland zur Zielperspektive einer inklusiven Gesellschaft bekannt und aktiv verpflichtet, Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderung „ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern“ (Artikel 4 UN-BRK). Die Konvention zielt darauf ab, die volle und wirksame Partizipation in allen Lebensbereichen zu gewährleisten und macht deutlich, dass dazu insbesondere Gleichberechtigung, Bewusstseinsbildung und Zugänglichkeit als Querschnittsthemen zu berücksichtigen sind.

Im Juni 2021 ist das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) in Kraft getreten. Mit diesem Gesetz wird ein seit Jahren verfolgtes Anliegen der Kinder- und Jugendhilfe auf den Weg gebracht: die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen, mit und ohne Behinderung. Die Kinder- und Jugendarbeit ist aufgerufen, bei ihren Angeboten die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Angebote für junge Menschen mit Behinderung sicherzustellen.

Bereits 20131 hat der Bundesjugendring mit seiner Positionierung zum Thema Inklusion deutlich gemacht: Es braucht einen Ansatz, der Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen in ihrer Vielfalt wahrnimmt und berücksichtigt, um allen eine gleichberechtigte Teilhabe und die Chance gemeinsamer Erfahrungsräume zu eröffnen. Darauf wollen wir aufbauen und mit dieser Position einen Rahmen für die Weiterentwicklung unseres Engagements zeichnen, der insbesondere die Bedürfnisse junger Menschen mit Behinderung adressiert.

In den kommenden Jahren müssen in einem gemeinsamen Diskurs zwischen öffentlichen und freien Trägern sowie der Politik die Voraussetzungen geschaffen werden, dieses Recht einzulösen und jungen Menschen mit Behinderung umfassende gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Wie die Lage ist

Unsere Gesellschaft ist von Strukturen durchzogen, die in vielen Bereichen ausschließend sind und die Teilhabe bestimmter Personengruppen systematisch erschweren. Benachteiligungsmechanismen sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Umgangs mit Vielfalt, der unter anderem Nicht-Behinderung als (soziale) Norm setzt. In den Rahmenbedingungen der Jugendverbandsarbeit werden Barrieren, die daraus erwachsen, konkret spürbar.

Erfahrungswerte aus der Praxis zeigen deutlich, dass es übergreifend an Ressourcen fehlt, um den gegenwärtigen Bedarfen gerecht zu werden: finanziell und fachlich.


 

So fehlt es an staatlicher Inklusionsunterstützung für ehrenamtliche Tätigkeiten bzw. für Jugend(behinderten)vereine. Weil Inklusion in vielen Bereichen noch nicht aktiv gelebt wird, mangelt es in der Breite auch an Erfahrung und Wissen. Dies führt mitunter zu Unsicherheiten und stellt alle Beteiligten – insbesondere Ehrenamtler*innen – vor vielfältige Herausforderungen. Auch die Verfügbarkeit von Fachkräften, wie Pflegefachkräfte, Assistenzen sowie Gebärdensprachdolmetscher*innen, und technischem Equipment, die in vielen Momenten Voraussetzung für inklusive Interaktionsformate darstellen, ist unzureichend. Gerade im Bereich der Mobilität bestehen Barrieren, die dem Charakter spontaner Jugendarbeit entgegenstehen. Anschaulich wird dies bei der Nutzung von öffentlichen Mobilitätsangeboten, wo zum Beispiel Rollstuhlfahrer*innen frühzeitig Kapazitäten oder Unterstützung anmelden müssen.

Wofür wir uns einsetzen

1. Inklusives Selbstverständnis von Jugendverbänden

Wir setzen uns dafür ein, dass inklusive Normalität in allen Lebensbereichen durch gemeinsame Erlebnisse lebendig und durch bedarfsorientierte Rahmenbedingungen möglich wird.

Wir begreifen Inklusion als Handlungsmaßstab, immer wieder zu hinterfragen, wie wir in unserer Gesellschaft mit Vielfalt umgehen wollen. Als Jugendverbände und -ringe erkennen wir Vielfalt als Bereicherung und Chance. Wir setzen uns dafür ein, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit und ohne Behinderung in allen Lebensbereichen angstfrei und gleichberechtigt teilhaben können. Dazu gilt es, die Verschränkung verschiedener Diskriminierungsformen durch eine intersektionale Perspektive stetig im Blick zu behalten und inklusive Haltungen fortwährend weiterzuentwickeln – sowohl durch Reflexion auf individueller Ebene als auch mit Blick auf unsere Prozesse in den Jugendverbänden und -ringen sowie weitergehende Lebensbereiche und die ihnen zugeordneten Institutionen. Gemäß dem Artikel 21 der UN-BRK2 ist dabei die Verwendung inklusiver Kommunikationsformen (etwa Gebärdensprache, Brailleschrift und einfache Sprache) unverzichtbar.

Wir setzen uns daher für die Stärkung einer Kultur inklusiven Denkens und Handelns und damit verbundenen (gesellschaftlichen) Bewusstseinsbildung3 ein.

Wir als Jugendverbände und -ringe

  • hinterfragen kritisch unsere Organisations- und Verbandskulturen mit Blick auf bestehende Normierungen und Benachteiligungsmuster,

  • fördern aktiv den Dialog zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen,

  • schaffen Informations- und Sensibilisierungsangebote in den Bildungsformaten der Jugendverbände und -ringe,

  • bilden Netzwerke mit anderen (Behinderten-)Selbstorganisationen, Verbänden und Einrichtungen der Behindertenhilfe,

  • greifen das Thema Behinderung in der eigenen Kommunikation aktiv auf und teilen Good Practices mit anderen,

  • gestalten perspektivisch alle eigenen Dokumente inklusiv, achten beim Erstellen der Texte auf Barrierefreiheit nach aktuellem Stand der Technik und versuchen alte Dokumente darauf umzustellen,

  • reflektieren den eigenen Sprachgebrauch diskriminierungskritisch und wollen eine diversitätssensible Sprache verwenden, die Menschen mit und ohne Behinderung anspricht.

2. Einfacher Zugang zu Freizeitangeboten der Jugendarbeit für junge Menschen mit Behinderung

Freizeit selbstbestimmt gestalten zu können, ist für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen maßgeblich. Losgelöst von Leistungsdruck und Fremdbestimmtheit bietet sie Raum für ein Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen sowie den Einzelnen die Möglichkeit, sich auszuprobieren und verstärkt Verantwortung zu übernehmen. Darüber hinaus tragen persönliche Begegnungen und gemeinsame Aktivitäten von Menschen mit und ohne Behinderung zum Abbau von Vorbehalten bei und fördern die gegenseitige Wertschätzung sowie die Entwicklung eines inklusiven Bewusstseins für das Zusammenleben.

Ein barrierefreier Zugang zu Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit ist daher enorm wichtig, um inklusive Erfahrungsräume strukturell zu öffnen – sowohl für Teilnehmer*innen als auch für Personen in allen anderen Funktionen, um gleichberechtigt an Planung, Organisation und Durchführung teilzuhaben. Für uns bedeutet das, unsere eigenen Strukturen am Leitgedanken der Inklusion zu messen, ihre Ausgestaltung dahingehend immer wieder kritisch zu überprüfen und bedarfsorientiert anzupassen.

Wir setzen uns aktiv für eine inklusive Gestaltung von Freizeitangeboten der Jugendarbeit und die Förderung inklusiver Teilhabe4 ein.

Dazu gehört

  • die Prüfung, ein Forum innerhalb des DBJR für inklusive Jugendarbeit einzurichten,

  • der Abbau von Barrieren im Bereich der Kommunikation und die Bereitstellung von Informationen auf möglichst barrierefreien Internetseiten sowie u. a. in Leichter Sprache, mit Untertiteln und in Gebärdensprache,

  • die Erstellung von Informationen für Menschen mit Behinderung, um diese auf Angebote und Möglichkeiten der Freizeitgestaltung in den Jugendverbänden aufmerksam zu machen,

  • die Entwicklung von inklusiven Angeboten, bei Bedarf auch in „geschützten“ Räumen, auch in Zusammenarbeit mit Behindertenverbänden und Behindertenhilfeeinrichtungen,

  • die Förderung von Kooperationen von örtlichen Gruppen und Anlaufstellen der Jugendverbandsarbeit mit lokalen und regionalen Behinderteneinrichtungen.


 

3. Inklusive Gestaltung von Bildungsangeboten

Jugendverbände und -ringe sind mit ihren differenzierten Qualifizierungs- und Bildungsangeboten große, non-formale Bildungsträger der Zivilgesellschaft. Ihre Angebote bieten vielfältige Chancen für informelles und selbstbestimmtes Lernen. In diesen Bildungswelten ist es eine Querschnittsaufgabe, die unterschiedlichen Lebenslagen von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung zu fördern.

Wir setzen uns aktiv für eine inklusive Gestaltung von Bildungsangeboten5 ein.

Dazu gehört

  • Angebote zur Qualifizierung und Weiterbildung von Fachkräften der Jugendarbeit im Themenfeld der integrativen und inklusiven Pädagogik fortzuschreiben und weiterzuentwickeln,

  • in der Juleica-Ausbildung für Inklusion in der Jugendarbeit zu sensibilisieren,

  • einen Zugang zu einer Juleica für Menschen mit Behinderung zu ermöglichen,

  • Strukturen und Formate für Wissensaustausch zum Querschnittsthema Inklusion im Bundesjugendring zu schaffen,

  • Bildungsangebote für Menschen mit Behinderung mit inklusivem Charakter zu eröffnen,

  • die Zusammenarbeit mit den Bildungsträgern von Behindertenverbänden,

  • die Information, Aufklärung und Bewusstseinsbildung von Fachkräften für Bildungsangebote in den Strukturen der Jugendverbände und -ringe.


 

Was wir fordern

Mit Blick auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gilt es, bestmögliche und barrierefreie Inklusionslösungen zu finden sowie adäquate Strukturen vor Ort zu schaffen. Damit dies flächendeckend gelingen kann, braucht es politische Unterstützung auf allen Ebenen.

Daher fordern wir,

  • dass die politischen Entscheidungsträger*innen die verbandliche Kinder- und Jugendarbeit als unverzichtbaren Beitrag von Inklusion anerkennen und entsprechend unterstützen.

  • dass nach dem Leitgedanken „Nichts über uns ohne uns“ sichergestellt wird, dass in Beteiligungsprozessen die Interessen von jungen Menschen – mit und ohne Behinderungen – selbstbestimmt vertreten werden.

  • dass neben der Lautsprache gleichberechtigte Kommunikationsformen wie die Gebärdensprache in der inklusiven Bildung und Gesellschaft genutzt wird.

  • dass die finanzielle Ausstattung der Jugendverbände dahingehend angepasst wird, dass sie den Zielen, Aufgaben und Forderungen des SGB VIII gerecht werden können. Inklusion kann nicht als Aufgabe mit der gleichen Ressourcenausstattung gemeistert werden.

  • dass finanzielle Unterstützung für barrierefreie Zugänge zu Jugendbildungsstätten geschaffen wird, z. B. durch das Investitionsprogramm für Jugendbildungsstätten6.

  • dass die Finanzierung auf allen föderalen Ebenen unkompliziert geregelt und sichergestellt ist.

  • dass Gruppierungen vor Ort flexibel und unbürokratisch finanzielle Mittel in Anspruch nehmen können, um inklusive Angebote zu realisieren.

  • dass Leistungen zur Betreuung von Menschen mit Behinderung, die einen Assistenzbedarf haben, finanziert werden, um an Bildungs- und Fortbildungsmaßnahmen oder ähnlichen Formaten teilhaben zu können, damit ihnen eine selbstbestimmte Freizeitgestaltung möglich ist.

  • dass – solange eine rahmenvereinbarte Förderung über den Kinder- und Jugendplan des Bundes (KJP) noch nicht realisiert ist – entstehende Kosten zur Gewährleistung einer inklusiven Jugendverbandsarbeit über ein Sonderprogramm abgedeckt werden.

 

Einstimmig beschlossen in der Vollversammlung am 28./29.10.2022.

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Position 98: Inklusion - auch für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen: www.dbjr.de/fileadmin/Positionen/2013/2013-DBJR-Position-VV-98-inklusion.pdf

2 Artikel 21 der UN-Behindertenrechtskonvention erkennt das Recht von Menschen mit Behinderung auf Meinungsäußerung und Meinungsfreiheit an, einschließlich der Freiheit, sich Informationen und Gedankengut zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben. Außerdem verpflichtet Artikel 21 der UN-Behindertenrechtskonvention die Staaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, damit Menschen mit Behinderung ihr Recht auf Meinungsäußerung und Meinungsfreiheit gleichberechtigt mit anderen durch die von ihnen gewählten Formen der Kommunikation ausüben können. Information und Bildung sind dabei ein wichtiger Bestandteil von Teilhabe.

3 Artikel 8 UN-BRK: Bewusstseinsbildung

4 Artikel 30 UN-BRK: Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport

5 Artikel 24 UN-BRK: Bildung

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www.dbjr.de/artikel/gemeinnuetzige-orte-der-jugendarbeit-zukunftssicher-machen

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