Jugendverbände Geflüchtete

Junge Geflüchtete: Viel passiert und noch viel zu tun

In den Jahren 2017 bis 2019 wurden vier Jugendverbände und -ringe aus dem Innovationsfonds des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. In der Jugendverbandsarbeit mit jungen Geflüchteten wollten sie Neues ausprobieren, Methoden erproben, Angebote erarbeiten und neue Partner*innen gewinnen. Ludwig Weigel, unser Referent für jugendpolitische Themen, zieht Bilanz.

Das gesellschaftliche und politische Klima in Europa zeigt: Wir leben aktuell in einer tief gespaltenen Gesellschaft. Ein Beispiel dafür sind einerseits Menschen und Positionen, die uneingeschränkte Solidarität mit Geflüchteten fordern und zeigen. Andererseits sind wir täglich mit Vorurteilen, Rassismus und Abschottung, politisch und gesellschaftlich, gegenüber Menschen auf der Flucht konfrontiert. Jugendverbände und -ringe in Deutschland machen sich nicht erst seit der großen Fluchtbewegung 2015 für eine solidarische Willkommenskultur stark. Sie setzen auf gute Integrationspolitik statt Abschottung. Die Jugendverbandsarbeit steht für Empowerment, für Gleichbehandlung und Toleranz statt Diskriminierung und Rassismus. Für Jugendverbände ist es selbstverständlich, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene – egal welcher Herkunft – in Deutschland und Europa die gleichen Rechte haben müssen. 
In den vergangenen Jahren sind viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland geflohen, unter ihnen zahlreiche junge Menschen. Angesichts traumatischer Fluchterfahrungen und dem Verlust der Heimat können Jugendverbände Möglichkeiten, Perspektiven und Räume schaffen, wo insbesondere junge Geflüchtete Begegnung und Teilhabe erleben können. Ob im kulturellen oder politischen Bereich, in den helfenden Verbänden oder den konfessionellen Jugendverbänden: Es gibt eine große Vielfalt unterschiedlicher Anknüpfungspunkte, wie gemeinsam mit Geflüchteten gelernt, erlebt und gelacht werden kann. Jugendverbände bieten Freiräume und ermöglichen informelles Lernen. Sie stehen für außerschulische Bildungsangebote für alle jungen Menschen, damit sie diese Gemeinschaft erleben und sich entfalten können.

Seit 2015 ist viel passiert. Werte, Angebote und Ausrichtung der Jugendverbandsarbeit haben dazu geführt, dass sich die Verbandsstrukturen in der Arbeit mit und für junge Geflüchtete immer mehr geöffnet haben. Alte und neue Herausforderungen stehen nebeneinander. Eine besondere Herausforderung sind die Zugänge und Kennenlernwege junger Menschen mit Fluchterfahrung zur Jugendverbandsarbeit. Die Erfahrungen zeigen: Junge Geflüchtete haben kaum Peerkontakte oder familiäre Kontakte zu Jugendverbänden. Angebote von Jugendverbänden in Gemeinschaftsunterkünften, in denen junge Menschen meist nur vorübergehend untergebracht werden, sind oft sehr befristet oder nur begrenzt geeignet, um Jugendverbandsarbeit oder den jeweiligen Verband und seine Arbeit kennenzulernen. Daneben sind junge Geflüchtete in erster Linie mit den gesetzlichen Hürden im Asylverfahren, der Verarbeitung ihrer Erfahrungen und dem Zugang zu vor allem formalen Bildungsangeboten beschäftigt. Sobald sie an diesen Punkten vor Schwierigkeiten gestellt werden, tritt weiteres (ehrenamtliches) Engagement in den Hintergrund. An den Übergängen in neue Lebenssituationen verliert sich so oft der Kontakt zu den Jugendverbänden.

Jugendverbände und -ringe sind dennoch vielerorts auf Gruppenunterkünfte, Strukturen und auch gezielt auf junge Geflüchtete selbst zugegangen, um mit niedrigschwelligen Angeboten der Jugendarbeit vor Ort, mit Ferienfreizeiten und anderen Maßnahmen zu einer gelingenden Integration beizutragen. Um die Ehrenamtsstrukturen in der Jugendarbeit mit und für junge Geflüchtete weiter zu öffnen, wurden unter anderem ehrenamtliche und hauptamtliche Mitarbeitende in den Jugendverbandsstrukturen geschult. Zudem wurde pädagogisches Material erstellt und rechtliche Unterstützung eingeholt, beispielsweise zur Residenzpflicht bei Jugendreisen oder zu anderen Themen. Je nach Ausrichtung und Schwerpunkt eines Verbandes wurden unterschiedliche Angebote geschaffen, in denen die Verbandsinteressen und die Interessen der Geflüchteten zusammenpassten. Einen Königsweg oder ein Musterangebot der Jugendverbandsarbeit mit und für junge Geflüchtete gibt es dabei nicht. Die Jugendverbandslandschaft selbst ist vielfältig und passt sich den unterschiedlichen Voraussetzungen vor Ort und in der Gruppe dementsprechend flexibel an. Die Erfahrungen in den letzten Jahren haben vor allem gezeigt: Der zielführendste Weg in der Arbeit mit jungen Geflüchteten ist, das Rad nicht neu zu erfinden, sondern im Kern an inhaltlichen und pädagogischen Leitlinien des eigenen Verbandes festzuhalten. Denn in der Regel sollte es so sein, dass sich junge Menschen selbstbestimmt den Ort suchen, an dem sie ihren Interessen am besten nachgehen können. Die beschriebenen Hürden führen dazu, dass eine nachhaltige Bindung junger Geflüchteter an die Jugendverbandsarbeit aktuell zu den schwierigsten Herausforderungen der verbandlichen Öffnung gehört. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat daher im Rahmen des Innovationsfonds Jugendverbände und -ringe gefördert, die sich gezielt mit diesem Thema auseinandersetzen. Von 2017 bis 2019 wurde die Arbeit von vier Projekten unterstützt. Die Projekte hatten das Ziel, nachhaltige Kontakt- und Kennenlernmöglichkeiten zu schaffen, Barrieren und Hinderungsgründe zu ermitteln und abzubauen sowie Prinzipien der Jugendarbeit und der Jugendverbandsarbeit zu reflektieren und zu vermitteln. 

Die Ausgangssituation der Projekte ist regional unterschiedlich. Ein eher in der Fläche aktiver Jugendverband verbindet andere Herausforderungen mit dem Thema als ein Jugendring in einer Großstadt, der vor allem übergeordnete Koordinierungsaufgaben gegenüber den engagierten Jugendverbänden übernimmt. Ebenso konnten einige Projekte auf schon jahrelang etablierte Strukturen der Jugendverbandsarbeit mit jungen Geflüchteten zurückgreifen, während andere ihr Projekt mit niedrigschwelligen Aktionen und Netzwerkarbeit begonnen haben, um sich den Projektzielen zu nähern. Bei aller Verschiedenheit ziehen sich auch gemeinsame, übergeordnete Erkenntnisse durch alle Projekte.

Nachhaltige Arbeit mit jungen Geflüchteten braucht Ressourcen

Am Ende der Projektlaufzeit war deutlich, dass die Arbeit mit und für junge Geflüchtete nicht ohne weiteres in die klassische Jugendverbandsarbeit und die damit verbundene Förderung integriert werden kann. Auch wenn die Arbeit mit jungen Geflüchteten inhaltlich und methodisch der genuinen Jugendverbandsarbeit ähnelt. Zusätzliche Ressourcen für die spezifischen Herausforderungen sind notwendig! Dazu zählen beispielsweise besondere finanzielle Förderbedarfe für junge Geflüchtete, etwa bei Teilnahmegebühren und anderen notwendigen Aufwänden, aber auch Schulungen für Fachkräfte im Umgang mit der Zielgruppe, etwa zu rechtlichen Fragen oder in rassismuskritischer und diversitätsbewusster Arbeit. Geschulte Ansprechpartner*innen in den Verbänden oder Jugendringen sind hilfreich für Austausch und Netzwerkarbeit, damit Expertise und Zeit für rechtliche Beratung und Begleitung sowie für die Entwicklung neuer Konzepte vorhanden ist.

Neben dem Weg über die Unterkünfte für Geflüchtete haben die Projekte Kontakte zu weiteren Partner*innen aufgebaut, um junge Geflüchtete für ihre Angebote zu gewinnen; vor allem zu Moscheegemeinden oder migrantischen (Jugend-)Organisationen, zu denen junge Geflüchtete durch andere Bezüge bereits einen guten Zugang haben. Neben Austausch und Sensibilisierung für Jugendverbandsarbeit wurden gemeinsame Aktionen umgesetzt. Ein wichtiger Aspekt war in einigen Projekten der Ansatz, junge Geflüchtete zur Selbstorganisation zu befähigen; das heißt: gruppenspezifische Interessenvertretungen ermöglichen und unterstützen. Oftmals ist jedoch die Elternarbeit der wichtigste Hebel für Zugänge zu Angeboten der Jugendverbandsarbeit. So gab es im Projekt der Falken Brandenburg, das mit Mädchen und jungen Frauen arbeitete, großen Bedarf an Elternarbeit. Mitarbeiter*innen oder Ehrenamtliche mussten viel Überzeugungsarbeit und vor allem Vertrauensarbeit leisten, damit die Mädchen und jungen Frauen auf Freizeiten mitfahren durften. Auch für die pädagogischen und strukturellen Prinzipien des Verbandes mussten Kompromisse beziehungsweise kreative Lösungsansätze gefunden werden, damit beispielsweise der koedukative Ansatz – die Unterbringung von Mädchen und Jungen in einem Zelt oder Zimmer – nicht tiefgreifend verändert werden musste. 

Peer-to-Peer-Ansatz als wichtiges Instrument für langfristige Bindung 

Eine Teilnahme am Zeltlager oder der Besuch einer Gruppenstunde sind oftmals erste Schritte, um sich anschließend über Jahre in der Jugendverbandsarbeit zu engagieren, Funktionen zu übernehmen, als Leiter*in auf Freizeiten zu fahren und – im Sinne des Peer-to-Peer-Ansatzes –  junge Menschen für die Jugendverbandsarbeit zu begeistern. Dieser Weg ist natürlich auch in der Arbeit mit jungen Geflüchteten möglich. Die Projekte haben für diese Zielgruppe niedrigschwellige Angebote entwickelt. Manche haben neue Aktivitäten, wie beispielsweise eine Schreibwerkstatt geschaffen, um junge Geflüchtete zu erreichen. Andere wiederum nutzen ihre jährlichen Zeltlager, um junge Geflüchtete an die Jugendverbandsarbeit heranzuführen. Unter anderem wurden Broschüren in mehreren Sprachen entwickelt, um über die Arbeit von Jugendverbänden allgemein zu informieren. 

Eine spannende Aufgabe ist es, wenn man darüber hinaus junge Geflüchtete für die Arbeit als Leiter*innen oder in anderen Funktionen gewinnen möchte und damit eine langfristige Bindung schafft. Ein wichtiges Instrument ist dabei die Jugendleiter*innencard-Schulung (Juleica), in der ein bundesweit einheitlicher Ausweis als Legitimation und Qualifikationsnachweis für ehrenamtliche Mitarbeiter*innen in der Jugendarbeit erworben wird. Alle Projekte haben spezifische Schulungen dazu durchgeführt. Nicht nur in den vier Projekten, sondern auch bei weiteren Jugendverbänden und -ringen sind Juleica-Schulungen für junge Geflüchtete ein wichtiges Thema. Sie werden mittlerweile in unterschiedlichen Varianten angeboten: als Schulungen ausschließlich für Geflüchtete, über spezielle Module innerhalb einer regulären Juleica-Schulung bis hin zu allgemeinen Schulungen, die sich diversitätsbewusster öffnen wollen. Das Projekt des Stadtjugendrings Wiesbaden beispielsweise hat das Ziel, allgemeine Juleica-Schulungen in Deutschland unter rassismuskritischen und migrationspädagogischen Fragestellungen zu analysieren. Denn nicht nur die Schulungen für junge Geflüchtete, sondern auch die Auseinandersetzungen im eigenen Verband zu Rassismuskritik oder zu Inklusion von Geflüchteten sind wichtige Elemente, um die eigenen Zugänge zu öffnen. 

Die vier Projekte haben unterschiedliche Wege eingeschlagen, Methoden erprobt, Angebote erarbeitet und neue Partner*innen gewonnen. Es wurden neue Strukturen geschaffen und wechselseitiges Vertrauen aufgebaut. Die Jugendverbandsarbeit mit jungen Geflüchteten braucht Zeit und Erfahrung. Nehmen die Verbände die Herausforderungen und die Öffnung ernst, müssen sie sich weiter verändern und womöglich bisherige Überzeugungen zur Disposition stellen. Das kann nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn die gesellschaftlichen Missstände und Hürden bei der Einhaltung garantierter Rechte für junge Geflüchtete abgebaut werden. Die zwei Projektjahre haben gezeigt, dass es mit Projektende eigentlich erst richtig losgehen kann.

Die Projektträger stellen ihre Erkenntnisse in unserem Debattenmagazin JUGENDPOLITIK vor, die Ausgabe kann hier heruntergeladen werden. 

Themen: Jugendverbände Geflüchtete