Demokratie

Wahlalter senken – (k)eine Debatte!

Menschen unter 18 Jahren sind aktuell von den Wahlen zum Deutschen Bundestag ausgeschlossen. Dadurch bleibt ihnen nicht nur ein elementares demokratisches Recht verwehrt. Es führt auch dazu, dass sie bei politischen Entscheidungen oft unberücksichtigt bleiben, obwohl sie am längsten von ihnen betroffen sind. Eine Absenkung des Wahlalters würde den demografischen Wandel abfedern, das politische Interesse junger Menschen fördern und das demokratische Gemeinwesen stärken.

Von Aaron Remus und Ludwig Weigel.

Es gibt aktuell viele Gründe dafür, jungen Menschen in Deutschland mehr Mitsprache bei politischen Entscheidungen einzuräumen. Kinder und Jugendliche gehen zu Hunderttausenden auf die Straße, um eine wirksame Klimapolitik einzufordern. Während der Corona-Pandemie wurde junge Menschen erst einiges abverlangt, bei den anschließenden Öffnungsdiskussionen aber wurden sie oft schlicht vergessen. Zwei Beispiele, die verdeutlichen, dass die junge Generation im Zweifel hinten runterfällt.

Gleichzeitig entsteht zumindest auf Bundesebene der Eindruck, politisch Verantwortliche würden jungen Menschen bei jeder Gelegenheit die Hand reichen. Die Bundeskanzlerin bittet zum Dialog[1], die Bundesfamilienministerin veranstaltet ein Jugend-Hearing[2], der Bundespräsident lädt Jugendliche gar zum „Takeover Bellevue“[3]. Es scheint also paradox, dass junge Menschen von politischen Entscheidungen oft nicht berücksichtigt werden. Dass sie Großdemonstrationen und Klimastreiks brauchen, um etwas zu bewegen. Dass sie dabei gleichzeitig für die Wahrung ihrer Grundrechte kämpfen, erklärte jüngst das Bundesverfassungsgericht in einem wegweisenden Urteil[4]. Und Studien belegen, dass junge Menschen sich nicht repräsentiert fühlen und sie nicht sehen, dass sie mit ihren Anliegen Gehör finden[5].

Junge Menschen können nur eingeschränkt mitbestimmen

Dabei schien die Bundesregierung die Problemlage erkannt zu haben. Im Jahr 2019 verabschiedete sie eine Jugendstrategie. Mit ihr erkannte die Bundesregierung an, dass die eigenständige Lebensphase von Jugendlichen und jungen Erwachsenen stärker in den politischen Fokus gerückt werden muss. Denn, so die Erkenntnis, heute getroffene Entscheidungen sind oft irreversibel und betreffen die junge Generation nicht selten sehr direkt. Mit ihren Auswirkungen müssen junge Menschen zudem die längste Zeit leben. Vorausgegangen war der Jugendstrategie der 15. Kinder- und Jugendbericht, der konstatierte, dass junge Menschen in Deutschland „nur über eingeschränkte Mitbestimmungsrechte“[6] verfügen.

Leider zeigte sich in der Folge, dass politischen Erkenntnissen und Absichtserklärungen nicht immer Taten folgen. So hat die Bundesregierung ihre Koalitionsvereinbarung gebrochen und es versäumt, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Ein Schritt, der die Beteiligungsrechte von jungen Menschen stärken würde. Die Koalition konnte sich jedoch nicht auf eine Formulierung einigen, um Kinderrechte wirksam zu stärken.

Wahlalter absenken: Die einfachste Möglichkeit, jungen Menschen Entscheidungsrechte einzuräumen, ist gleichzeitig die politisch am meisten umkämpfte.

 

Die Absenkung des Wahlalters wurde in der vergangenen Legislatur im Bundestag debattiert, ihre Umsetzung jedoch abgelehnt. Im Mai 2021 stimmten CDU, CSU und SPD gegen einen Gesetzentwurf, durch den das Wahlalter auf 16 Jahre heruntergesetzt werden sollte. FDP, Bündnis 90/Die Grünen, die Linke und SPD fordern eine Wahlaltersenkung auf Bundesebene. Die Chancen stehen also gut, dass eine Absichtserklärung zur Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre in die Koalitionsvereinbarungen aufgenommen wird. Für diese braucht es aber eine Grundgesetzänderung und damit eine Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag.

Die Argumente der Skeptiker*innen sind bekannt, doch betrachten wir zunächst die Ausgangssituation der Debatte.

Ein Blick auf die Zahlen macht deutlich, dass der demografische Wandel in den letzten hundert Jahren stark dazu beigetragen hat, dass ältere Menschen immer mehr und immer älter werden, während der Anteil von jungen Menschen an der Gesamtbevölkerung zurückgeht. Noch Ende des 19. Jahrhunderts haben unter Zwanzigjährige die Hälfte der Bevölkerung ausgemacht, 1960 hatten sie noch einen Anteil von 28 Prozent. Heute liegt dieser knapp unter 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Für die Wahlberechtigung heißt das: Bei der Bundestagswahl 2021 war nur jede*r siebte Wahlberechtigte jünger als 30 (14,4%). Die Gruppe der Wähler*innen über 60 Jahren war mehr als zweieinhalb Mal so groß (38,2%).[7]

Diese Entwicklung führt auch dazu, dass die Lebensrealitäten von jungen Menschen in politischen Entscheidungsprozessen immer stärker in der Hintergrund rücken. Um Mehrheiten zu erlangen, orientieren sich die Parteien im Zweifel an der Mehrheit der Wahlbevölkerung – und die wird immer älter. Politik aber betrifft die Jüngeren am längsten. Es wäre daher nur folgerichtig, dieser Schieflage im Sinne des demokratischen Gemeinwesens entgegenzuwirken und den Anteil junger Menschen an der Wahlbevölkerung zu erhöhen.

Ein Ausschluss von der Wahl muss gut begründet sein

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. So steht es seit 1949 im Grundgesetz in Artikel 38 Absatz 1. Will man jemanden von der allgemeinen Wahl ausschließen, muss das gut begründet sein – und immer wieder geprüft werden. Die Altersgrenze als ein Ausschlusskriterium, das in Absatz 2 genannt wird, muss dieser Prüfung standhalten. Dass sie aktuell auf die Vollendung des 18. Lebensjahres zielt, ist willkürlich und war keineswegs immer so.

Bis 1970 konnten junge Menschen ab 21 den Bundestag wählen. Nach einer Grundgesetzänderung ist seitdem die Vollendung des 18. Lebensjahres Voraussetzung für den Urnengang. Im Übrigen wurde die Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre erst 1975 gesetzlich angepasst. Die Altersbeschränkung auf 18 gilt wohl gemerkt auf Bundesebene. Schon jetzt dürfen 16-Jährige in elf Bundesländern bei Kommunal- und in vier Bundesländern bei Landtagswahlen wählen.

Beliebtes Argument gegen die Absenkung des Wahlalters, insbesondere von konservativen Parteien, ist die Verknüpfung mit den Regelungen des Strafrechts bzw. der Volljährigkeit. Dabei wird angeführt, Rechte und Pflichten müssten Hand in Hand gehen. Eine Trennung von Rechten und Pflichten gibt es allerdings mit Bezug zum Alter an vielen Stellen. Eine volle Strafmündigkeit ist beispielsweise erst ab 21 Jahren gegeben, auch 20-jährige können nach Jugendstrafrecht verurteilt werden. Willkürliche Altersgrenzen bestehen überhaupt in vielen Bereichen: Mit 16 dürfen Jugendliche Bier kaufen oder einer Arbeit nachgehen und damit Steuern zahlen, mit 17 Auto fahren und zur Bundeswehr. Rechtliche Altersgrenzen dienen überwiegend dem Schutz Minderjähriger, häufig im Kontext der Gesundheit und der Entwicklungsgefährdung. Das Wahlrecht ist dagegen weder gesundheits- noch entwicklungsgefährdend, junge Menschen müssen also nicht davor geschützt werden.

Das politische Interesse junger Menschen ist stark gestiegen

Und dann wäre da noch der Einwand der fehlenden Reife oder des zu geringen Verantwortungsbewusstseins Minderjähriger, weswegen der Gang zur Wahlurne verwehrt werden müsse. Junge Menschen seien nach dieser Auffassung leichter zu manipulieren und könnten von Eltern oder andere Kontakten sowie den Sozialen Medien in ihrer Wahlentscheidung beeinflusst werden. Gerne wird daher die Möglichkeit zum Wählen mit dem Schulabschluss und dem dort erworbenen politischen Wissen oder an erste Berufserfahrungen geknüpft.

Die Autor*innen der Otto-Brenner-Studie zum Wahlaltersenken auf 16 sehen in der „Reife-Debatte“ eine Verbindung zum Vorwurf des fehlenden politischen Interesses und politischen Wissens von 16-Jährigen.[8]

Allerdings zeigen die Shell-Jugendstudien, dass das politische Interesse von jungen Menschen in den letzten 20 Jahren stark angestiegen ist[9]. In allen Altersgruppen gibt es somit Menschen, die sich nicht mit Politik beschäftigen und sich nicht für sie interessieren. Daher kann auch die Wahlbeteiligung einzelner Altersgruppen und die damit verbundene Reifefrage im Sinne des politischen Interesses und Wissens kein Argument sein.

Die Studie der Otto-Brenner-Stiftung greift diesen Gedanken auf und stellt die Frage: „Warum eigentlich, so könnte man berechtigt fragen, sollten sich junge Menschen eigentlich für Politik interessieren, bevor sie überhaupt wählen dürfen?“[10] Im Umkehrschluss heißt das also auch: Wenn junge Menschen die Möglichkeit haben, wählen zu können, beschäftigen sie sich mit Politik. Das fördert demnach auch ihr politisches Wissen und Interesse. Zu einem solchen Ergebnis kommt auch eine Studie der Bertelsmann Stiftung von 2015[11]. Die Studie stellt fest, dass die Begleitung des Wahlgangs von jungen Menschen in schulischen Bildungsstrukturen dazu beiträgt, dass sich die Wahlbeteiligung der jungen Menschen erhöht, deren politisches Interesse zunimmt und sich Wahlgewohnheiten etablieren[12]. Wesentlich ist dabei auch, dass sich die jungen Menschen nicht nur im familiären Kontext und in der Schule, sondern auch unter Peers, also Gleichaltrigen, zu politischen Themen austauschen können. Als Initiative politischer Bildung ist beispielsweise das Projekt U18-Wahl ein Ort, wo sich Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren selbstbestimmt und selbstbewusst politisch ausdrücken können. In einer eigens durchgeführten Wahl, wenige Tage vor dem eigentlichen Wahlgang der über 18 Jährigen, organisieren junge Menschen Wahllokale, setzen sich mit den Inhalten der Parteien auseinander und stimmen selber ab.

Verpassen junge Menschen ihre erste Wahl, gehen sie wahrscheinlich auch nicht zur nächsten

Anders ist es, wenn junge Menschen bereits länger Schule und Elternhaus verlassen haben. Sie befinden sich dann in einer Umbruchphase. Viele Dinge, wie etwa der Auszug aus dem Elternhaus, die neue Arbeitsstelle und die eigene Versorgung stehen stärker im Fokus. Das politische Interesse schwindet und damit auch die Bereitschaft, zur Wahl zu gehen.[13] Verpassen junge Menschen also beispielsweise ihre erste Wahl, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch an der nächsten Wahl nicht teilnehmen. Zusammenfassend bedeutet das: Je früher junge Menschen durch Wahlen mitentscheiden können, desto stärker fördert dies ihr politisches Interesse und Wissen sowie ihre Bereitschaft, auch zukünftig zu Wahlen zu gehen.

Nicht nur die Mehrzahl der demokratischen Parteien hat erkannt, dass eine Wahlaltersenkung auf allen föderalen Ebenen in Deutschland ein wichtiger Schritt wäre, um die Teilhabe und Mitbestimmung von jungen Menschen zu stärken. Seit vielen Jahren setzen sich darüber hinaus junge Menschen, ihre Interessenvertretungen, Politiker*innen und Wissenschaftler*innen sowie weitere zivilgesellschaftliche Organisationen dafür ein, das Wahlalter zu senken. Die meisten von ihnen fordern dabei ein Wahlalter ab 16. Einige, wie beispielsweise der Deutsche Bundesjugendring e. V., fordern sogar einen Wahlgang ab 14.

Das Wahlrecht ist ein höchstpersönliches Recht

Darüber hinaus gibt es auch Forderungen, dass junge Menschen ab der Geburt wählen sollen. Andere sprechen sich für ein Stellvertreter*innenwahlrecht aus, dass also beispielsweise die Eltern für die eigenen Kinder wählen gehen. Allerdings ist dabei festzuhalten: Wahlrecht ist ein höchstpersönliches Recht. Es kann nicht übertragen, abgetreten oder veräußert werden. Dies darf mit keiner Begründung zu Disposition stehen, weil damit enorme Gefahren für die Demokratie verbunden wären. Eine Wahlentscheidung, die durch Eltern bzw. Sorgeberechtigte treuhänderisch vorgenommen wird, hat zudem nichts mit der stärkeren Berücksichtigung der eigenen Interessen von Kindern und Jugendlichen zu tun. So sind etwa die Forderungen und Ansprüche von Kindern und Jugendlichen einerseits und die der Eltern andererseits oft verschieden.

Festzuhalten bleibt, die gesellschaftlichen Herausforderungen sind groß und sie können nur von allen Generationen gemeinsam gelöst werden. Die Herabsetzung der Altersgrenze bei Wahlen wäre gleichermaßen die Einräumung elementarer demokratischer Rechte und ein wichtiges Signal an junge Menschen: Ihr werdet gehört, ihr seid Teil des demokratischen Gemeinwesens, ihr könnt und sollt eure Zukunft mit prägen.

 

Dieser Beitrag ist am 07.12.2021 in der Publikation „Notwendig und vielfältig. Schlaglichter auf die Eigenständige Jugendpolitik“ (S. 27ff) der Arbeitsstelle Eigenständige Jugendpolitik erschienen.

 

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[1] https://www.dbjr.de/artikel/bundeskanzlerin-im-dialog-mit-jungen-und-alten-menschen

[2] https://www.dbjr.de/artikel/bundesjugendministerin-will-ergebnisse-des-jugend-hearings-weitertragen

[3] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/08/210823-Takeover-Bellevue.html

[4] https://www.dbjr.de/artikel/klimaschutzgesetz-verletzt-freiheitsrechte-junger-menschen

[5] https://www.uni-hildesheim.de/neuigkeiten/wie-erleben-jugendliche-die-corona-krise-ergebnisse-der-bundesweiten-studie-juco/

[6] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/115438/d7ed644e1b7fac4f9266191459903c62/15-kinder-und-jugendbericht-bundestagsdrucksache-data.pdf S. 12

[7] https://www.bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2021/01_21_wahlberechtigte-geschaetzt.html

[8] Faas, Thorsten; Leininger, Arne (2020): Wählen mit 16? Ein empirischer Beitrag zur Debatte um die Absenkung des Wahlalters. Otto Brenner Stiftung, OBS-Arbeitspapier 41, S. 8ff

[9]

www.zeit.de/politik/2019-10/klaus-hurrelmann-shell-jugendstudie-politik-aktivismus-populismus

[10] Faas, Thorsten; Leininger, Arne (2020): Wählen mit 16? Ein empirischer Beitrag zur Debatte um die Absenkung des Wahlalters. Otto Brenner Stiftung, OBS-Arbeitspapier 41, S. 9

[11] Vehrkamp, Robert; Im Winkel, Niklas; Konzelmann, Laura (2015): Wählen ab 16. Ein Beitrag zur nachhaltigen Steigerung der Wahlbeteiligung. Bertelsmann Stiftung

[12] Ebd. S. 24f

[13] Faas, Thorsten; Leininger, Arne (2020): Wählen mit 16? Ein empirischer Beitrag zur Debatte um die Absenkung des Wahlalters. Otto Brenner Stiftung, OBS-Arbeitspapier 41, S. 8

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